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17.11.17 / Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-17 vom 17. November 2017

Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

eine Familiensaga auf dreieinhalb Schreibmaschinenseiten – kann es die überhaupt geben? Es gibt sie hier und heute, denn sie wurde nicht über, sondern für die Ostpreußische Familie geschrieben. Frau Gudrun Schlüter aus Münster hat es getan und uns das Manuskript übersandt mit dem Foto, das drei Generationen ihrer Familie zeigt und zum Auslöser für ihre Aufzeichnungen wurde, wie sie erklärt: „Vielleicht möchten Sie in der Ostpreußischen Familie einmal eine solche Familie in drei Generationen zu Wort kommen lassen – mit ihren Lebenswegen, ihrem Schicksal, zumal diese Familie prussische Vorfahren hat.“ Dazu brauchte ich weder eine lange Überlegung noch eine Aufforderung, denn solch eine in den engsten Raum gestellte und damit auf das Wesentliche konzentrierte Familiensaga wie die der Familie Bartholomeyszik haben wir wohl noch nie in unserer Kolumne gebracht. Was mir aber noch wichtiger erscheint, ist die Feststellung, dass es sich hier um eine alte, fest in Ostpreußen verwurzelte Sippe handelt, deren Geschichte ein Spiegelbild unserer Heimat und ihrer Menschen ist, und so manche Leserin, mancher Leser, wird hier Parallelen zu der eigenen entdecken. Sie erfasst das vergangene Jahrhundert und aus den knapp gehaltenen Aufzeichnungen wird erkennbar, was die Generationen, die es erfahren, erdulden, erleiden mussten, an Fleiß, Kraft und Überlebenswillen aufbringen mussten. Die Aufzeichnungen der Gudrun Schlüter geborene Bartholomeyszik beginnen an einem masurischen Ort, der durch Siegfried Lenz Eingang in die deutsche Literatur gefunden hat: So zärtlich war Suleyken.

„Ja, so zärtlich, dass meine Großeltern dort am 19. Juni 1902 – in der Urkunde noch in Sütterlin – heirateten. Die Urkunde liegt nur in einer Ausfertigung vom 6. November 1919 vor und trägt das Siegel „K. Pr. Standesamt Wessolowen, Kr. Oletzko“, darin der gekrönte Adler, in den Fängen Zepter und Reichsapfel, Hoheitszeichen des Königsreichs Preußen. Das Original ist im Ersten Weltkrieg untergegangen. Erster Weltkrieg: Das bedeutete für meine Großmutter Gertrud Julianna geborene Bednarczyk um die Jahreswende 1914/15 schwanger und mit zwei Kindern im Alter von elf und acht Jahren Flucht aus Masuren nach Berlin. Dort kam am 18. April 1915 das dritte Kind zur Welt. Der Älteste, mein Vater, wurde auf ein altsprachliches Gymnasium, das Königsstädtische Gymnasium, geschickt. Am 14. September 1917 erblickte das vierte Kind das Licht der Welt – in Golumbien, Masuren. Die Rückkehr war also bald möglich gewesen. Dafür wurde Hindenburg in Ostpreußen verehrt. Als Beispiel diene die Veranstaltung eines Ehrenkommers in der Stadthalle Königsberg am 21. August 1924, „zu dem Generalfeldmarschall von Hindenburg bereits zugesagt“ hatte, wie es in einer Einladung von Studenten an Studenten heißt, die von meinem Vater unterzeichnet ist. Doch ich greife voraus.

Das hier gezeigte Familienfoto stammt aus einer wieder geordneten Zeit. Nach dem Aussehen der beiden Jüngsten zu urteilen entstanden um 1921. Hintere Reihe Mitte: die Großeltern. Großvater mit Pfeife, ohne die er nicht zu denken war. Im Jahr 1892 hatte er mit 15 Jahren innerhalb von 14 Tagen beide Eltern verloren. Hof und Gastwirtschaft gingen auf den ältesten Bruder über, Großvater verblieb in dem jungen Haushalt. Wie er es schaffte, den erforderlichen Schulabschluss für die Präparande zu schaffen – niemand weiß das. Er muss in mindestens vier Dörfern – Goldebau, Hellmahnen, Golubbien, Carlswalde – Lehrer gewesen sein. Nach schwerer Flucht im Zweiten Weltkrieg starb er 1948 in Oldenburg, weil er es nicht fertigbrachte, eine Fischsuppe wegzuschütten. Sie war verdorben.

Neben ihm Großmutter. Ihre Ururgroßmutter war Regina von Langheim, geboren auf Adl. Borken, in unserer genealogischen Linie letzte Trägerin des prussischen Namens von Langheim – so die letzte eingedeutschte Schreibweise dieser weitverzweigten, schon um 1200 nachweisbaren adeligen Prussenfamilie. Auch Johannes von Langheim gehört zu ihr, der 30 Jahre lang Praeceptor – Erzieher und Berater – von Herzog Albrecht Friedrich war. Neben Großmutter steht ihr zweites Kind, die einzige Tochter, meine Tante Hedwig. Sie heiratete einen Schriftsteller, Leiter des Ressorts Kultur am Sender Breslau, einen Zwei-Meter-Menschen. Er schaffte es, von der Ostfront zu Fuß nach Berlin zu gelangen. Dort verhungerte er. Großvater, Tante Hedwig und ihre zwei kleinen Kinder flohen von Breslau aus und gerieten in Dresden in den feindlichen Großangriff. Vom Bahnhof aus gelangten sie in einen überfüllten Luftschutzbunker. Dort stieg die Hitze derart an, dass sie sich ins Freie stürzten, wo sie sich sicher wähnten. Sie hörten einen Verwundeten rufen: ,Ihr müsst zu den Flammen rennen, dort ist Sauerstoff, wo es nicht brennt, ist keiner!‘ Also weiter zu den Flammen, dabei verloren sie Großvater. Mutter und Kinder gelangten irgendwie auf die Elbwiesen und glaubten sich schon gerettet, als die Bomben mit Zeitzündern hochgingen. Sie sahen brennende Menschen in die Elbe springen, die sofort wieder in Flammen standen, wenn sie aus dem Wasser auftauchten. Danach war ihr jüngster Sohn lange Zeit gestört. Er rief noch Monate lang – oder waren es Jahre? – Nacht für Nacht: ,Feuer! Feuer!‘ Am nächsten Tag suchten Tante Hedwig und Großvater einander. Vergeblich, ja noch schlimmer: Ein Jeder glaubte, unter den verkohlten Leichen den anderen gefunden zu haben. Die Herumirrenden wurden eingesammelt und nach Hirschberg im Riesengebirge gebracht. Dort liefen sich Großvater und Tante Hedwig über den Weg und fielen sich in die Arme.

Neben Großvater steht mein Vater. Nach einer kaufmännischen Ausbildung in Königsberg Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Königsberg und Breslau. 1937 Promotion und 1939 Habilitation in Breslau, 1940 Dozent mit der Lehrbefugnis für Handels- Wirtschafts- und Zivilprozessrecht, später erweitert auf Handels- und Wirtschaftsrecht. Ab 1955 Professur in Mainz.

In der vorderen Reihe von links Onkel Günther. Er wurde 1942 in Rschew verwundet und starb – wie so viele –, da es damals noch keine Antibiotika gab. Er liegt auf dem Friedhof in Deblin/Weichsel, Grab Nr. 224. Als er verstorben war, zog man ihm im Lazarett wieder seine Uniform an, in der er dann im offenen Sarg lag. Mein Vater hat an seiner Beerdigung teilgenommen. Wahrscheinlich geht auf ihn das Foto zurück, das ich als Achtjährige gesehen habe. Danach konnte ich in der Schule nicht mehr mitsingen, wenn das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ angestimmt wurde. Mein 25-jähriger, bei jedem Fronturlaub wieder gesehener Onkel. Kam er spät, stand er am Fußende meines Bettes – aber er kam.

Das Familienleben folgte einem Hauptaugenmerk: der guten Ausbildung der Kinder, für einen preußischen Volksschullehrer wie mein Großvater auf dem Dorf ein Problem, bekam er doch nur ein schmales Gehalt und als Ergänzung ein jeweils ausgewiesenes Stück Land. Wie sollte also meiner Tante Hedwig Klavierunterricht ermöglicht werden? Man sammelte die Sahne der Kuhmilch und brachte sie an jedem Wochenende in ein Ausflugslokal! Und der Besuch eines Gymnasiums, der nur durch Unterbringung in einem Internat möglich war? Beim ältesten Sohn hatte man es geschafft, aber für den zweiten, den Nachgeboren? Für ihn nahm mein Vater – sein Bruder – während seines Studiums eine Hauslehrerstelle an.

Dieser Bruder, mein Patenonkel Siegfried, verhinderte 1945 in der 6. Kurlandschlacht den Durchbruch der Russen. Er war damals 29 Jahre alt und Vater von zwei Kindern. Mein Onkel erhielt für diesen erfolgreichen Einsatz das Deutsche Kreuz in Gold. Der Dokumentation von Werner Haupt ,Die 81. Infanterie-Division, Geschichte einer schlesischen Division‘ ist über diese Auszeichnung meines Onkels Folgendes zu entnehmen: ,Die 

I. / A.R. 181 unter Führung von Hauptmann Bartholomeyczik nahm in offener Feuerstellung den Kampf auf und verhinderte den Zusammenbruch der Front. Der Abt. Kdr. wurde dafür mit dem Deutschen Kreuz in Gold ausgezeichnet.‘

Ja, so waren sie, die Bartholomeyczik. So bleiben sie – Deutschland, deine Ostpreußen.“

Mit diesen Worten schließt Gudrun Schlüter ihre in Kurzform gebrachte Familiensaga, wie wir sie nennen wollen, denn sie könnte mit den Menschen und ihren Schicksalen gut und gerne den Stoff für eine Romantrilogie bieten. Allein mit der Chronik der prussischen Adelsfamilie von Langheim, die in ihrer großmütterlichen Linie eine Rolle spielt, ließen sich Kapitel füllen. Frau Schlüter hat bereits eine fundierte Abhandlung über die von Langheims und ihre prussische Herkunft, die man aufgrund des eingedeutschten Namens nicht vermutet, für die „Altpreußische Geschlechterkunde 2013“ geschrieben. Die PAZ brachte vor einigen Jahren ihren Leserbrief über den Großangriff auf Dresden, wie sie auch diesen extra für unsere Ostpreußische Familie geschriebenen Beitrag behandelt, der besonders die Leserinnen und Leser, die sich selber mit Familienforschung beschäftigen, anspricht und andere vielleicht dazu motiviert. Denn mit den letzten Worten „Deutschland, deine Ostpreußen“ verlässt Gudrun Schlüter ihren eigenen Familienraum und gibt sie weiter an alle Landsleute. (Gudrun Schlüter, Achtermannstraße 20 in 48143 Münster, Telefon 0251/511795.)

Eure Ruth Geede