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24.11.17 / Gipfel der Entrüstung / Gullivers Reisen sind mehr als ein Jugendbuch – Zum 350. Geburtstag des Autors Jonathan Swift

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-17 vom 24. November 2017

Gipfel der Entrüstung
Gullivers Reisen sind mehr als ein Jugendbuch – Zum 350. Geburtstag des Autors Jonathan Swift
Harald Tews

„Gullivers Reisen“ sind ein ewiger Klassiker. Die Satire auf die menschliche Gesellschaft ist vielen nur in der entschärften Fassung als Jugendbuch bekannt. Ihr Autor Jonathan Swift hätte sich darüber köstlich amüsiert.

In der St.-Patricks-Kathedrale von Dublin befindet sich am Grab von Jonathan Swift ein von ihm selbst auf Latein verfasstes Epitaph vom Todesjahr 1745. Dessen erste Zeilen lauten übersetzt: „Hier ruht der Leib des Jonathan Swift, des Dekans dieser Kathedrale: Hier, wo wilde Entrüstung sein Herz nicht mehr zerfleischen kann.“

Die „saeva indignatio“, die „wilde Entrüstung“, beschreibt recht gut Swifts zorniges Temperament, das er in seinen Schriften zum Ausdruck brachte. Der Ausdruck geht zurück auf den römischen Satiriker Juvenal, wo­mit Swift gleichzeitig einem Geistesverwandten huldigt. Denn seine Empörung über das menschliche Gesellschaftssystem schrieb sich Swift als Satiriker vom Leib.

Hätte er jemals geahnt, dass sein Hauptwerk „Gullivers Reisen“ ähnlich wie Defoes „Robinson Crusoe“ oder Stevensons „Die Schatzinsel“ als Jugendbuch verniedlicht wird, hätte er alle seine satirischen Ansichten über das irrational handelnde Menschengeschlecht bestätigt gefunden: lieber ein Missverständnis in Kauf nehmen, als eine Satire ernst nehmen.

Ähnlich wie Gulliver im Land der Lilliputaner ist Swift selbst so etwas wie ein Riese der angelsächsischen Literatur, genauer: der anglo-irischen. Denn genauso wie Oliver Goldsmith („Der Vikar von Wakefield“), Laurence Sterne („Tristram Shandy“), Maria Edgeworth („Castle Rackrent“) oder die Dramatiker George Bernard Shaw und Oscar Wilde gehört Swift zu jenen Autoren, denen Irland die physische, England aber die geistige Heimat war. Swift war im Herzen Brite, obgleich er als Mitglied der protestantischen Führungsschicht im mehrheitlich katholischen Irland aufgewachsen ist. Dennoch hat er einen großen Anteil daran, dass Irland seit dem 18. Jahrhundert den Ruf einer Insel der Literaten und Poeten genießt.

Sein Geburtshaus in der Nähe des Schlosses von Dublin existiert nicht mehr. Ein trister Parkplatz markiert heute den Ort, wo Swift am 30. November 1667 als Sohn eines Juristen, der sieben Monate vor der Geburt des Sohnes an Syphilis starb, zur Welt kam. Un­terstützt von einem Onkel studierte er an Dublins – protestantischer – Universität Trinity College. Obgleich nur mittelmäßiger Student, strebte er nach höherer Karriere im Staatsdienst. Diese bot sich, nachdem er in der irischen Provinz einen ungeliebten Pfarrdienst versehen hatte. Über einen adeligen Gönner kam er nach London und knüpfte dort ein Netzwerk an Beziehungen. Im Scriblerus Club lernte er mit Alexander Pope, John Gay und John Ar­buthnot die da­maligen Stars der Literaturszene kennen und schuf erste Satiren wie „Die Bücherschlacht“ oder „Das Tonnenmärchen“. 

Schließlich ge­lang ihm der Sprung an den Königshof. Er war nicht nur Ratgeber von Queen Anne, sondern betrieb für ihre konservative Tory-Regierung als Herausgeber der Zeitschrift „Examiner“ eifrig Propaganda gegen die oppositionellen Whigs, deren radikalen Ideen er früher einmal selbst nahegestanden hatte.

Als Queen Anne 1714 starb und mit ihrem Nachfolger Georg I. aus dem Hannoveraner Welfenhaus die Whigs an die Macht kamen, musste der inzwischen bereits ebenso berühmte wie berüchtigte Swift politische Verfolgung be­fürchten. Da kam ihm das Angebot wie gerufen, nach Dublin als Dekan der St.-Patricks-Kathedrale zurückzukehren. Für Swift bedeutete das einen Karriereknick. Wie viele Geistliche seiner Zeit übte er das Amt weniger aus Überzeugung als der sicheren Pfründe wegen aus und hielt, immer wenn er an der Reihe war, alle fünf Wochen eine Predigt.

So blieb viel Zeit zum Schreiben. Mit 59 Jahren schrieb er sich seine Entrüstung über die Gesellschaft in seinem bekanntesten Sa­tirebuch „Gullivers Reisen“ von der Seele. In den vier von „Robinson Crusoe“ inspirierten Reisen auf die Insel der Lilliputaner, die der Riesen (Brobdingnag), die fliegende Insel von Laputa und ins Land der edlen Pferde (Houyhnhnms) wandelt sich Swift vom Gesellschafts- zum Menschheitssatiriker. 

Dechiffriert man die Satire der ersten beiden Reisen, so findet sich hier ein Spiegelbild der englischen Politik: Die Spaltung des Lilliputanerreichs nach der Schuhmode in „Hochhacken“ und „Flachhacken“ entspricht der Rivalität von Whigs und Tories; die königliche Verordnung, Eier nicht an der runden Seite, sondern an der Spitze zu öffnen, entspricht der spitzfindigen Trennung von anglikanischer und römisch-katholischer Kirche; der Dauerzwist mit der Nachbarinsel Blefescu, wo Gulliver eine ganze Schiffsarmada entführt, entspricht dem um Frankreich ausgetragenen Erbfolgekrieg gegen Spanien; und wenn der Riese Gulliver ein Feuer im Schloss des Kaisers mit seinem Urin löscht, so ist das Swifts bissiger Kommentar auf den Welfen-König Georg I.

Die Satire be­schränkt sich nicht nur auf die Handlung, sondern auf Gulliver selbst, der als leichtgläubig (= Englisch „gullible“) und zivilisatorische Missgeburt vorgestellt wird. Als Gulliver in Brobdingnag dem Riesenkönig einen Vortrag über modernes Kriegshandwerk hält, wendet sich dieser angewidert ab: „Ich kann daraus nichts anderes schließen, als dass die Eingeborenen bei euch (Engländern) zur übergroßen Mehrheit das zäheste und widerwärtigste kleine Ge­würm sein müssen, das die Natur jemals auf dieser Erde hat kriechen lassen.“

Nach der Satire über die abgehobene Wissenschaft in der Reise nach Laputa wird Gulliver bei den Houyhnhnms („hwinems“ gesprochen bedeutet es lautmalerisch im Englischen so viel wie „Wiehern“) endgültig zum Gewürm. Hier entwickelt Swift in der Nachfolge von Thomas Morus eine satirische Sozialutopie von den intelligenten Pferden, die den animalischen, affenähnlichen Yahoos im Land, zu denen die Gäule auch Gulliver zählen, überlegen sind. Die Identifikation mit dem Lebensideal der Pferde geht bei Gullivers Rückkehr so weit, dass er alle Menschen für Yahoos hält und selbst seine Frau nicht mehr riechen kann.

Man hat Swifts Entrüstung über das Menschengeschlecht als Misanthropie gedeutet. Er selbst sagte: „Grundsätzlich verabscheue ich das Tier namens Mensch, obgleich ich John, Peter, Thomas und so weiter herzlich liebe.“

Swifts Hass zielte auf das Menschliche im Allgemeinen, nicht auf den Menschen im Besonderen. Als Angriff auf Personen hat er seine Satire nie missbraucht. Damit unterscheidet er sich stark von heutiger Kabarettsatire, dessen „indignatio“ gegen Politik und Gesellschaft häufig geschmack- und einfallslos ist.


Zum Swift-Jubiläum ist im Manesse-Verlag eine famose Neuübersetzung von „Gullivers Reisen“ durch Christa Schuenke erschienen (704 Seiten mit Nachwort und Erläuterungen, 28,80 Euro).