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24.11.17 / »Mit sozialistischem Gruß Harry Tisch« / Die Servilität des FDGB-Vorsitzenden gegenüber Erich Honecker trieb seltsame Blüten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-17 vom 24. November 2017

»Mit sozialistischem Gruß Harry Tisch«
Die Servilität des FDGB-Vorsitzenden gegenüber Erich Honecker trieb seltsame Blüten
Heidrun Budde

Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund der DDR (FDGB) war nach dem Selbstverständnis des SED-Staates „die umfassende Klassenorganisation der Arbeiterklasse“, welche die Interessen aller Werktätigen durch eine rechtlich garantierte Mitbestimmung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wahrnahm. Im Artikel 44 der DDR-Verfassung war geregelt, dass die Gewerkschaften unabhängig waren und sie niemand in ihrer Tätigkeit einschränken oder behindern durfte. Harry Tisch war von 1975 bis 1989 der Vorsitzende des FDGB und gleichzeitig Mitglied des Politbüros der SED und des Staatsrates. Damit hatte er eine Rechtsposition, die es ihm gestattete, eine starke Interessenvertretung durchzusetzen. Doch die Akten belegen, dass die Wirklichkeit ganz anders aussah. 

Der Vorsitzende des FDGB pflegte einen Personenkult um Erich Honecker, der bizarre Züge annahm. Unterwürfige Briefe von Harry Tisch zeigen heute auf, dass die Gewerkschaft lediglich ein Anhängsel der SED war. So wollte der FDGB am 2. Mai 1983 eine Gedenkfeier aus Anlass der Zerschlagung der freien Gewerkschaften unter der nationalsozialistischen Herrschaft durchführen. Es waren Kranzniederlegungen geplant, und Tisch schrieb an Honecker:

„Eine Ehrung soll am Grabstein von Ernst Thälmann im Rondell, eine weitere an der Gedenktafel für die von den Faschisten ermordeten Widerstandskämpfer, unter denen sich viele Gewerkschafter befinden, vorgenommen werden. … Ich bitte um Deine Zustimmung zu den vorgesehenen Aktivitäten. Mit sozialistischem Gruß Harry Tisch.“ 

Nach Honeckers wohlwollender Genehmigung fanden die Gedenkveranstaltungen statt. Im Januar 1984 bekam Harry Tisch eine Einladung zu einer gemeinsamen Beratung von Gewerkschaftsfunktionären in Prag. Doch auch hier schrieb Tisch zunächst an den ersten Mann im Staate: „Ich bitte um Deine Zustimmung, dass ich am 16.1.1984 an dieser Beratung teilnehmen kann. Mit sozialistischem Gruß Harry Tisch.“ Gönnerhaft war der handschriftliche Vermerk von Honecker auf der rechten oberen Ecke des Schreibens vermerkt: „Einverstanden E. H.“

Mitunter durfte Harry Tisch auch eine wichtige öffentliche Rede halten, eigentlich ein guter Anlass, Kritik zu üben und die tatsächlich vorhandenen Missstände deutlich anzusprechen. Der Vorsitzende des FDGB war beispielsweise am 27. März 1984 bei einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung des Zentralkomitees der SED und des FDGB-Bundesvorstandes anlässlich des 100. Geburtstages von Fritz Heckert als Redner vorgesehen. In einem Brief zwei Monate vorher schrieb er an Honecker: „Schließlich bitte ich zu entscheiden, ob die Rede für diese Gedenkveranstaltung, die laut Beschluss von mir zu halten ist, durch das Politbüro bestätigt werden soll. Mit sozialistischem Gruß Harry Tisch.“

Die Akte belegt, dass sein Redemanuskript tatsächlich vom Politbüro zensiert wurde. Der archivierte Text weist handschriftliche Änderungen auf und trägt den Vermerk, dass die Fassung vom Politbüro bestätigt wurde. Der Vorsitzende des FDGB durfte nur öffentlich äußern, was die SED-Führungsspitze vorher abgesegnet hatte. 

Der von Harry Tisch praktizierte Personenkult um Honecker kannte offensichtlich keine Grenzen. Am 16. Oktober 1981 führte der Bun­des­vorstand des FDGB eine Beratung mit 400 Gewerkschaftsvertrauensleuten in Vorbereitung auf die Gewerkschaftswahlen durch. Drei Tage vorher, am 13. Oktober 1981, informierte Harry Tisch Erich Honecker über dieses Ereignis und schrieb: 

„Lieber Genosse Honecker! … Wir haben die Absicht, dort durch die Vertrauensleute in Form eines Briefes, der an Dich gerichtet wird, ein Bekenntnis der Vertrauensleute zur Politik unserer Partei zu verabschieden. Solltest Du mit dem Inhalt des Briefes einverstanden sein, bitte ich um Deine Entscheidung, ihn publizistisch in unseren Massenmedien auszuwerten. Mit sozialistischem Gruß Harry Tisch.“ 

Diesem Schreiben war der Entwurf des geplanten Briefes der gewerkschaftlichen Vertrauensleute beigefügt, in dem Honecker „herzliche Kampfesgrüße“ übermittelt werden sollten und man ihm für seine Politik, die er „konsequent auf das Wohl des Volkes“ gerichtet hätte, danken wollte. Es waren die üblichen politischen Phrasen, die in diesem Brief standen, aber eine Zusendung an Honecker, ohne dass er selbst vorher gefragt worden wäre, ob ihm der Inhalt gefällt, war für Harry Tisch offenbar undenkbar. Honecker zensierte den Brief an sich selbst, und 400 Vertrauensleute des FDGB waren drei Tage später nur Statisten in diesem Vorgang.

Eine tatsächlich unabhängige Gewerkschaft gab es in der DDR nicht. Der FDGB war von der verfassungsrechtlich und gesetzlich verankerten Stellung weit entfernt. Das Verhältnis zur SED-Führungsebene war von Untertanengeist, Personenkult, vorauseilendem Gehorsam und Schönfärberei geprägt. Die DDR-Bürger warteten vergeblich darauf, dass ihre juristisch legitimierte Interessenvertretung Missstände wie Wohnungsnot, schlechte Versorgung, fehlende Urlaubsplätze oder die verfallenden Häuser thematisierte. Stattdessen gab es die immer gleichlautenden politischen Erfolgsmeldungen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatten. Das sorgte für tief sitzenden Frust in der Bevölkerung, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass sich 1989 so viele den Demonstrationszügen anschlossen.