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24.11.17 / Glückskind des Versailler Vertrages? / Vor 25 Jahren fand das großtschechische Projekt Tschechoslowakei ein Ende

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-17 vom 24. November 2017

Glückskind des Versailler Vertrages?
Vor 25 Jahren fand das großtschechische Projekt Tschechoslowakei ein Ende
Wolfgang Kaufmann

Der tschechoslowakische Staat, das sogenannte Glückskind des Versailler Vertrages, entstand 1918 und zerfiel 74 Jahre später in zwei Hälften. Ursache hierfür war der tiefgehende Antagonismus zwischen Tschechen und Slowaken, dessen Bedeutung in dem Maße zunahm, wie ethnische Minderheiten – allen voran Deutsche und Ungarn – aus dem einstigen Vielvölkerstaat verdrängt wurden.

Mehr als 1000 Jahre lang lebten die beiden slawischen Völker der Tschechen und Slowaken in zumindest juristisch getrennten politischen Gebilden – bis zum 30. Oktober 1918. Dann verkündeten die Vertreter aller maßgeblichen Parteien der Slowakei den Beitritt ihrer Heimat, die bis dahin Teil des Königreichs Ungarn gewesen war, zur zwei Tage zuvor proklamierten Tschechoslowakischen Republik (CSR). Deren Existenz resultierte aus den Bemühungen der Tschechen, sich vom Habsburgerreich zu lösen. Hierbei wurden sie ab 1916 von Großbritannien und Frankreich sowie dem US-Präsidenten Woodrow Wilson unterstützt, der ein erklärter Verfechter des Selbstbestimmungsrechtes der Völker war. Letzteres hielt aber weder die Alliierten noch das tschechische Militär davon ab, auch jene Gebiete Böhmens, Mährens, der Slowakei, Niederösterreichs und Österreichisch-Schlesiens im Handstreich zu besetzen, in denen kaum oder gar keine Tschechen, sondern mehrheitlich andere slawische Ethnien oder Deutsche lebten.

Die Slowaken entschieden sich für die Loslösung von Ungarn und das politische Zusammengehen mit den Tschechen, um die drohende Magyarisierung abzuwenden. Dabei vertrauten sie darauf, dass sie in der CSR den Autonomiestatus genießen könnten, der ihnen im Pittsburgher Abkommen vom 31. Mai 1918 zwischen Amerikatschechen und Amerikaslowaken zugesichert worden war. Darüber hinaus hatte der spätere erste CSR-Präsident Tomáš Garrigue Masaryk 1917 in dem programmatischen Buch „Das neue Europa“ getönt: „Im Hinblick auf seine zentrale Lage wird der tschechoslowakische Staat immer ein Interesse daran haben, allen … Minoritäten die vollen Rechte zu sichern.“ 

Ebenso versprach Edward Benesch, dessen Dekrete später die Basis für die Enteignung und Vertreibung der Deutschen und Ungarn schufen, den Siegermächten während der Verhandlungen im Vorfeld des Friedens von Saint-Germain am 20. Mai 1919 auf schriftlichem Wege: „Die tschechoslowakische Regierung hat die Absicht, ihren Staat so zu organisieren, dass sie als Grundlage der Nationalitätenrechte die Grundsätze annimmt, die in der Verfassung der Schweizerischen Republik zur Geltung gebracht werden.“

Angesichts dieser vollmundigen Verheißungen bestätigten die Alliierten in den Pariser Vorortverträgen, die den Ersten Weltkrieg formell beendeten, die Existenz der CSR, die sich nach außen hin als „neue Schweiz“ gerierte. Damit existierte nun ein Vielvölkerstaat im Herzen Europas, dessen ethnische Diversität sich kaum von der zerstückelten Donaumonarchie unterschied. So ergab die Volkszählung von 1921, dass neben den 6,7 Millionen Tschechen und zwei Millionen Slowaken auch genau 3123568 Deutsche in der Tschechoslowakischen Republik lebten. Deren Zahl überstieg also die der Angehörigen der zweiten staatlichen Titularnation der CSR ganz erheblich. Dazu kamen unter anderem noch 745431 Ungarn, 461849 Russen, Ukrainer und Karpathorussen beziehungsweise Ruthenen, 75873 Polen sowie rund 180000 Juden und zahlenmäßig nicht erfasste Roma. Insgesamt machten die Minderheiten mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Allein die Gruppe der Deutschen, die sowohl in den sogenannten historischen Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien als auch in der Slowakei vertreten war, stellte schon knapp ein Viertel.

Sämtliche dieser Nationen hatten sich der Doktrin des Tschechoslowakismus zu unterwerfen, die 1920 formell Eingang in die Verfassung der CSR fand. Sie besagte, dass es eine traditionelle ethnische und kulturelle Einheit von Tschechen und Slowaken gebe, denen zudem auch die unangefochtene Führungsrolle in der Tschechoslowakei zustehe. Auf der Basis dieses Konstrukts, das auch von den meisten Slowaken abgelehnt wurde, errichteten die Tschechen dann einen Zentralstaat, in dem sie die Macht in ihren Händen konzentrierten und die heuchlerisch zugesagten Minderheitenrechte uneingelöste papierne Versprechen blieben.

Hauptleidtragende dieser Politik waren die Deutschen, denen von Anfang an blanker Hass entgegenschlug. Das belegt beispielsweise eine Denkschrift des tschechischen Obergerichtsrates Ladislav Josef Stehule, in der es hieß: „Der Deutsche als Feind der Menschheit kann das Recht auf Selbstbestimmung nicht nach seinen egoistischen Bedürfnissen wahrnehmen.“ Infolgedessen verweigerte Prag den Deutschböhmen und Deutschmährern nicht nur die politische Autonomie, sondern versuchte gleichermaßen, deren kulturelle Identität durch eine rigide Sprach- und Bildungspolitik zu zerstören. Außerdem fanden Enteignungen von Ackerland über 150 Hektar Größe statt, um das „Unrecht von 1620“ zu tilgen. Wegen solcher und anderer Diskriminierungen reichte die deutsche Minderheit allein zwischen 1920 und 1930 175 Beschwerden beim Völkerbund ein. 

Am schlimmsten waren schließlich die Vertreibungen ab 1945, die wohl bis zu 300000 Sudetendeutschen das Leben und weiteren drei Millionen die Heimat kosteten. Ähnlich übel mitgespielt wurde anderen Minderheiten wie den Ungarn, wobei deren Verfolgung gleichfalls mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Wiedererrichtung der Republik kulminierte. Das nicht zuletzt als Folge des öffentlichen Aufrufs von Beneš am 16. Mai 1945, „die Ungarn in der Slowakei zu eliminieren“. 

Gleichermaßen hatten die Slowaken in dem Staat, der angeblich auch der ihre sein sollte, wenig zu lachen. So mehrten sich bald die Versuche einer zwangsweisen Tschechisierung – und jeder slowakische Bürger oder Politiker, der auf die garantierte Autonomie pochte, wurde gnadenlos verfolgt. An der hieraus resultierenden Entfremdung änderte auch der Prager Frühling von 1968 nichts, in dessen Folge es wenigstens zu einer formellen Föderalisierung der nunmehrigen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR) kam. Das Bemühen der Tschechen, eine gemeinsame tschechoslowakische Identität unter Führung Prags zu schaffen, scheiterte auf ganzer Linie.

So entbrannte kurz nach der Samtenen Revolution von Ende 1989 der sogenannte Gedankenstrich-Krieg. Darüber, dass nach dem Sturz des kommunistischen Regimes das „Sozialistisch“ aus dem Namen „Tschechoslowakische Sozialistische Republik“, den die Tschechoslowakei seit 1960 führte, gestrichen werden sollte, bestand Konsens. Der Tscheche an der Spitze der Tschechoslowakei, Staatspräsident 

Václav Havel , hoffte, dass es mit dieser Rückkehr zum Staatsnamen bis 1960 getan sei. Von slowakischer Seite wurde jedoch statt der ersatzlosen Streichung die Ersetzung von „Sozialistische“ durch „Föderative“ gefordert. Hierauf konnte man sich einigen.  Schwieriger zu lösen war die Frage, ob „Tschechoslowakisch“ weiterhin ungekoppelt geschrieben werden sollte. Der faule Kompromiss bestand darin, dass das Wort in der tschechischen Version ungekoppelt (Ceskoslovenská federativní republika) und in der slowakischen gekoppelt (Cesko-slovenská federatívna republika) wurde. So wurde am 29. März 1990 aus der CSSR die „Tschechoslowakische Föderative Republik“. 

Umstritten war nun noch, ob das „s“ von „slowakisch“ groß- oder kleingeschrieben werden sollte. Da von slowakischer Seite aus Gründen der Gleichberechtigung ein großes „s“ gefordert wurde, die Rechtschreibung in beiden Sprachen jedoch ein kleines vorsah, wurde aus „tschechoslowakisch“ „tschechisch und slowakisch“. Am 23. April 1990 wurde aus der „Tschechoslowakischen Föderativen Republik“ die „Tschechische und Slowakische Föderative Republik“ (CSFR). Diese Lösung hatte gleich zwei Vorteile. Zum einen konnte das „s“ nun entsprechend dem slowakischen Wunsch großgeschrieben werden, ohne gegen die Rechtschreibregeln zu verstoßen. Zum anderen war der Staatsname nun wieder in beiden Landesteilen mit „Ceská a Slovenská Federativní Republika“ beziehungsweise „Ceská a Slovenská Federatívna Republika“ identisch. 

Wie jene des Staatsnamens spiegelt auch die Entwicklung des Staatswappens die Föderalisierung des Zentralstaats und die Emanzipation der Slowaken nach der Samtenen Revolution wider. Das Wappentier der CSSR und der CSR war der aus Böhmen stammende silberne doppelschwänzige Löwe auf rotem Grund. Die Slowakei war in dem Wappen nur durch den Brustschild des Löwen vertreten. Das Wappen der CSFR war hingegen viergeteilt und zeigte jeweils zweimal diagonal den tschechischen weißen Löwen auf rotem Grund und das Wappen der Slowakei.

Dieses symbolische Abrücken von Zentralstaat beseitigte aber keine der gravierenden nationalen und auch wirtschaftlichen Differenzen zwischen den beiden Teilrepubliken. Den endgültigen Bruch führten schließlich die Parlamentswahlen vom Juni/Juli 1992 herbei. Die eher dem Sozialismus nachtrauernden Slowaken miss­trauten dem Reformeifer der Tschechen beziehungsweise deren radikaler Hinwendung zur Marktwirtschaft und wählten den Nationalisten Vladimír Meciar zum Ministerpräsidenten ihrer Teilrepublik, der meinte: „Es gibt keine Möglichkeit, den jetzigen Zustand zu erhalten. Die Entwicklung könnte sonst außer Kontrolle geraten.“ Darin gab ihm der neue tschechische Premier Václav Klaus recht, weil er die ärmere Slowakei als Klotz am Bein betrachtete und baldmöglichst loszuwerden trachtete. Deshalb einigten sich die beiden Politiker Ende August 1992 im Garten der Villa Tugendhat in Brünn in mehreren Vieraugengesprächen auf das Ende der Föderation. 

Meinungsumfragen zufolge waren nicht nur die Tschechen, sondern auch die Slowaken mehrheitlich trotz aller gegenseitiger Animositäten gegen die Auflösung der CSFR. Bei den Tschechen waren es mit 65 fast zwei Drittel und bei den Slowaken immerhin noch 55 Prozent. Nichtsdestoweniger ging nun alles ganz schnell. Am 25. November 1992 verabschiedete die Bundesversammlung der CSFR ein Gesetz zur Teilung des Staates, durch das er mit Ablauf des 31. Dezember 1992 aufhörte zu existieren. Anschließend konstituierten sich zum 1. Januar 1993 die beiden eigenständigen Nachfolgestaaten Tschechische Republik und Slowakische Republik. 

Verständlicherweise trauern die Tschechen der von ihnen dominierten Tschechoslowakei eher hinterher als die Slowaken. Das wird sehr augenfällig in der Staatssymbolik. Die Slowakische Republik hat auf die bereits von der Ersten Slowakischen Republik von 1939 bis 1945 benutzte Symbolik zurückgegriffen. Der signifikanteste Unterschied ist, dass die heutige weiß-blau-rote Flagge zusätzlich das Wappen am Liek trägt, um eine Verwechslung mit der 1991 wieder eingeführten heutigen Flagge Russlands in den panslawischen Farben zu verhindern. Die Tschechische Republik hingegen hat die Flagge der Tschechoslowakei übernommen, obwohl das blaue Dreieck ursprünglich für den slowakischen Landesteil der Tschechoslowakei stand. Auch ihr Großes Wappen übernahm die Tschechische Republik grundsätzlich von der CSFR, nur dass im linken oberen und im rechten unteren Teil an die Stelle des slowakischen die Wappen Mährens und Schlesiens traten. Und selbst die tschechoslowakische Abkürzungstradition hat die Tschechei im Gegensatz zur Slowakei fortgesetzt. So wird dort analog zu „CSR“, „CSSR“ und „CSFR“ von der „CR“ gesprochen, wenn vom eigenen Staat die Rede ist. Entsprechende Reminiszenzen finden sich in der Slowakei verständlicherweise nicht. Die Tschechoslowakei war halt primär ein großtschechisches Projekt.