24.04.2024

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01.12.17 / Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-17 vom 01. Dezember 2017

Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

mein alter Freund und ehemaliger Kollege vom Ostpreußenblatt, Horst Zander, der auch unseren Leserinnen und Lesern aus alten Zeiten vertraut ist und über den ich – wie auch über seinen Lindenhof in Hinterpommern – oft berichtet habe, pflegt mich an jedem Montagvormittag anzurufen. Wir tauschen dann Meinungen und Erfahrungen aus, denn er, ein geborener Kösliner, ist als Herausgeber und Chefredakteur der „Kösliner Nachrichten“ tätig, und so haben wir uns immer viel zu erzählen. Aber am vorletzten Montag erhielt ich keinen Anruf, und ich machte mir Sorgen, weil kürzlich ein Orkan die Linden, die dem Hof seinen Namen gaben, entwurzelt hatte – und so Unrecht hatte ich nicht, denn sein Anruf kam einen Tag später und wieder musste Horst Zander von einem Unwetter berichten, das aber diesmal den Boden betraf. Es hatte tagelang in Strömen gegossen, die Erde nahm diese Wassermassen nicht auf, alles war abgesoffen, auch die Pumpe versagte ihren Dienst. Gerade als er mir davon berichtete, rief seine tatkräftige Frau Lydia aus dem Hintergrund: „Sie geht wieder!“ Man spürte die Erleichterung, denn der Lindenhof liegt für unsere Begriffe doch recht einsam dicht an der ehemaligen westpreußischen Grenze. Was die Sache noch verschlimmerte: Ein Kälteeinbruch ließ das Thermometer auf -5 Grad sinken. Ich schaute auf mein Außen-Thermometer: +5 Grad. Und die Stiefmütterchen in meinen Balkonkästen blühen immer noch als müssten sie nachholen, was sie in diesem verregneten Sommer versäumt hatten.

Nicht gerade ein Wetter, das uns in vorweihnachtliche Stimmung bringen kann, also müssen wir selber für diese sorgen. Pfefferkuchenteig, wie unsere Mütter ihn um diese Zeit anzurühren pflegten, damit er gut zugedeckt in Ruhe reifen konnte, werden wir wohl weniger in unserem häuslichen Adventsprogramm haben – aber Marzipan könnten wir doch schon fabrizieren, dann zieht ein erster weihnachtlicher Duft durch die Räume. Marzipan gehörte nun einmal zu einer ostpreußischen Weihnacht wie der Mohnstriezel, aber es gab noch viele andere Bräuche, und einer hat mich besonders berührt, obgleich ich ihn tohuus nie gekannt habe. Denn es handelt sich um einen ermländischen Brauch, Frau Hildegard Michalski hat ihn extra für unser Familienbuch „Das Bernsteinkettchen“ beschrieben, und so will ich ihre Kindheitserinnerung zum Ersten Advent bringen, denn ein bisschen Vorweihnacht muss auch in unserer Kolumne sein – sonst wären wir doch keine Ostpreußische Familie! Hildegard Michalski hat ihren Beitrag „Stroh für die Krippe“ genannt, und unter diesem Titel steht er auch in dem Buch: 

„Unser Vater hatte lange vor Weihnachten eine Krippe gebastelt. Sie war sicher nicht sehr groß, aber meiner Schwester und mir erschien sie riesig, wie sie da auf dem kleinen Schrank stand. Am ersten Adventssonntag legte meine Mutter in die leere Krippe ein aus Holz geschnitztes Jesuskind. Vater hatte ein Bündel Stroh geschnitten, das im Küchenschrank aufbewahrt wurde, unerreichbar für uns Kinder.

Und dann begann das wundervolle Adventsspiel. Immer wenn wir Kinder besonders artig waren, zog Mutter einen Halm aus dem Strohbündel. Wir durften ihn vorsichtig in die Krippe legen. Auch wenn wir pünktlich vom Schlittschuhlaufen kamen – und wir waren pünktlich! – bekamen wir einen Strohhalm, ebenso für das Abtrocknen des Geschirrs und andere ‘gute Taten’. Die wurden sehr großzügig beurteilt, so gehörte zum Beispiel das Ausstechen der Weihnachtsplätzchen dazu, das uns ja sowieso viel Freude machte. Zwischendurch sagte auch der Vater manchmal: ‘Das war ein besonders guter Tag, wir wollen jeder einen Halm in die Krippe legen.’ Und wenn die Großmutter, die immer ein besticktes Ermländerhäubchen trug, uns besuchte und froh war an diesem Tag kein ‘Zipperlein’ gehabt zu haben, dankte sie Gott und legte einen Halm hinein. So wuchs das Krippenstroh, und das Weih­nachtsfest rückte immer näher. Wie glücklich waren wir am Heiligen Abend, wenn das Jesuskind in der bis zum Rand gefüllten Krippe lag – in dem Bettchen, das wir ihm bereitet hatten.“

Nicht alle Vertriebenen können ihre Kindheit so bewahren wie Hildegard Michalski, und erst recht nicht so liebevoll wiedergeben. Und dann kommen mehr als 70 Jahre nach Flucht und Vertreibung die nächsten Generationen und wollen wissen, wie die Eltern und Großeltern einmal in der angestammten Heimat gelebt haben, denn diese haben höchstens ansatzweise darüber berichtet, wenn überhaupt. Wenn auch Verwandte aus der Erlebnisgeneration nicht mehr am Leben sind, finden immer mehr jüngere Menschen zu uns, weil sie hoffen, etwas über die Ostpreußische Familie erfahren zu können – der Tipp kommt zumeist aus unserem treuen Leserkreis und erweckt manchmal zu viel Hoffnung bei den Anfragenden. Deshalb bitte ich ja immer um Angabe der Telefonnummer, denn in einem direkten Gespräch kann man vieles klären, vor allem, wenn die Suchbitte recht umfangreich ist. So führte ich jetzt ein Vorgespräch mit einer Fragestellerin aus dem Rheinland, das so anregend für uns beide war, dass sie mich demnächst in Hamburg aufsucht, denn ich bin für sie eine authentische Zeitzeugin aus der Welt ihrer verstorbenen Großeltern, mit denen ich ja fast altersgleich bin.

Ein Satz aus ihrer Anfrage hat mich besonders nachdenklich gemacht: „Mich interessiert am meisten das ostpreußische Lebensgefühl, Spirit der Stadt Königsberg, um besser verstehen zu können, was meine ostpreußische Identität eigentlich ausmacht. Wenn man in Ihrem Alter ist, welche Idee hatte man dann vom Leben? Was war dort typisch gewesen? Was hat man als Lebensgefühl zurückgelassen?“

Besonders die letzte Frage beschäftigt mich nun sehr, denn sie betrifft ja nicht das materielle Gut, das zurückbleiben musste, das geht aufzulisten, und das haben wir ja auch nach Möglichkeit getan. Aber haben wir unser Lebensgefühl oder wie man unsere bewussten oder unbewussten Empfindungen auch nennen mag, wirklich zurückgelassen? War es so an die Heimat gebunden, dass es anderswo höchstens im Ansatz oder überhaupt nicht spürbar ist? Es gibt das Wort von der Kindheit, die man in die Tasche stecken soll, um sie für das weitere Leben mitzunehmen. Kann man mit einer glück­lichen Kindheit, wie Jean Paul sagt, für ein halbes Leben haushalten? Ich glaube, wenn man die Erinnerung an den Adventsbrauch im Ermland, wie Hildegard Michalski ihn schildert, unter diesen Aspekten betrachtet, so ist es ihr wie den meisten der Erlebnisgeneration auch gelungen. Aber dies ist ein Thema, das viele ältere Leserinnen und Leser interessieren wird, zumal es aus der Enkelgeneration kommt. Wer sich dazu äußern will, schreibe bitte an mich, denn ich möchte den Informationskreis für meine Besucherin vor allem, was diese Frage betrifft, erweitern. Ich bin da doch etwas befangen, denn ich bin ja ständig in Gedanken in meiner Heimat, das bewirkt die Ostpreußische Familie mit ihren Wünschen und Fragen.

Dass unser altes Königsberg eine liebens- und lebenswerte Stadt war, hat ja Eberhard von Flottwell mit seinem Poem „So war’s einmal in Königsberg“ bewiesen. Wir brachten es in der letzten Folge, und es dürfte bei manchem Königsberger heitere Erinnerungen an einen Besuch in einer der sehr speziellen Gaststätten unserer ostpreußischen Metropole bewirkt haben. Ob ich deshalb die Kopie einer alten Ansichtskarte aus dem Familienkreis bekommen habe, weiß ich nicht, aber das ist auch nicht ausschlaggebend, sondern was sie zeigt, und das dürfte doch merklich zur Heiterkeit der Betrachter beitragen. Die Karte ist zweigeteilt, sie zeigt im unteren Teil den Kaiser-Wilhelm-Platz, der geradezu idyllisch wirkt – jedenfalls ist er als urbaner Mittelpunkt der Stadt, wie er uns vertraut war, nicht erkennbar. Kein Auto, keine Radfahrer, selbst keine Pferdedroschken, wie sie noch in den 20er Jahren unter der Schlossmauer standen – lediglich ein einsamer Straßenbahnwagen, der gerade in die Altstädtische Langgasse einbiegt. Danach müsste die Aufnahme einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sein, denn bereits 1895 betrieb Königsberg als erste deutsche Stadt eine elektrische Straßenbahn in eigener Regie. Die einzige Strecke führte vom Kaiser-Wilhelm-Platz zur Augustastraße, die Maximalgeschwindigkeit betrug neun Kilometer. Dass die Aufnahme weit über 100 Jahre alt ist, beweist auch der obere Teil, und der hat es in sich. Er beinhaltet einen „Gruss aus Königsberg, der schönen Stadt, welche die schönsten Mädchen hat“. Und die wurden auch als Beweis präsentiert: Vier hochgeschlossene und hochtoupierte Damen, die nach heutigen Kriterien weder Schönheit noch Jugendlichkeit ausstrahlen, denn sie wirken gemäß Kleidung und Frisur nicht gerade mädchenhaft sondern eher distinguiert, um im Jargon der damaligen Zeit zu sprechen. Aber immerhin: Dass Königsberg den Ruf besaß, die Stadt der schönsten Mädchen zu sein, hat mich doch sehr verwundert, ist aber nunmehr belegt. Bisher hatte, wie ich mich erinnere, die Stadt Tilsit dieses Privileg inne. 

Mit einem Gruß nicht aus sondern an Königsberg wollen wir unsere Familienkolumne beenden. Es sind die letzten Zeilen aus dem Poem „So war´s einmal in Königsberg“ und ist eine einzige Liebeserklärung an Königsberg: „Liebe, alte Stadt am Pregel, machst das Herz so forsch und kregel, alte, gute Heimatstadt, machst zufrieden uns und satt, nimmst uns warm in deine Hut: Königsberg – ich bin dir gut!“

Eure Ruth Geede