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08.12.17 / Ikone des Klassizismus / Revolutionäre Kunst-»Gedanken« – Zum 300. Geburtstag des »ersten Kunsthistorikers«: Johann Joachim Winckelmann

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-17 vom 08. Dezember 2017

Ikone des Klassizismus
Revolutionäre Kunst-»Gedanken« – Zum 300. Geburtstag des »ersten Kunsthistorikers«: Johann Joachim Winckelmann
Harald Tews

Die Griechen als Vorbild für Europa? Diese Vorstellung käme heute einem Witz gleich. Im 17. Jahrhundert aber konnte Johann Joachim Winckelmann die Kunst der alten Griechen noch unbekümmert zum Kunstideal erklären. Er setzte damit die Stilrichtung des deutschen Klassizismus in Gang und machte sich zum ersten Kunstwissenschaftler überhaupt.

Kleines Literaturquiz: Wie heißt der französische Autor solcher berühmter Romane wie „Rot und Schwarz“ oder „Die Kartause von Parma“? Richtige Antwort: Sten­dhal. Es war das Pseudonym von Marie-Henri Beyle, der sich in der französisierten Form nach der Stadt in der Altmark nannte, aus der sein großes Vorbild stammte. 

In Stendal wurde am 9. Dezember 1717 Johann Joachim Winckelmann geboren, der mit einer einzigen Phrase schlagartig be­rühmt wurde und der einen nicht zu un­terschätzenden Einfluss auf eine Kunstepoche hatte, die von Deutschland aus ganz Europa erfassen sollte und das Rokoko ablöste. 

Das Winckelmannsche Idiom von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ als Merkmal alter Kunst war bald ähnlich in aller Munde, so wie heute rätselhafte Werbebotschaften zum Allgemeingut geworden sind: „Haribo macht Kinder froh“ oder „Yes, we can“. Man muss Slogans nur oft genug wiederholen, damit sie sich ins kollektive Gedächtnis einprägen.

Winckelmann verstand es aus der Not heraus, Werbung in eigener Sache zu machen. Sein kurzes Traktat „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“, in dem er seinen originellen Einfall von der „edlen Einfalt“ wie ein Leitmotiv wiederholte, war im Prinzip ein Bewerbungsschreiben für eine Bibliothekarsstelle beim Kardinal Ar­chinto in Rom. Den päpstlichen Nuntius hatte Winckelmann in der Bibliothek eines Gönners bei Dresden kennengelernt. Nachdem ihm der Kardinal die Stelle schmackhaft gemacht hatte, konvertierte Winckelmann sogar zum Katholizismus. 

Für den Sohn eines Flickschusters, der erst ziellos Theologie, dann Medizin studiert hatte und sich als mittelloser Hauslehrer durchschlug, war Rom eine einmalige Chance. Das Interesse für die Kunst nahm er womöglich nur als Vorwand. Nachdem einer seiner Schüler ihm untreu geworden war, hoffte er, in Rom seine ho­moerotischen Neigungen, die ihm später zum Verhängnis werden sollten, frei ausleben zu können.

Doch das Stellenangebot zog sich hin. Um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, schrieb er 1755 seine kurzen „Gedanken über die Nachahmung“, veröffentlichte es in nur 50 Exemplaren, fügte ein „Sendschreiben“ hinzu, in dem er unter der Maske eines Kritikers sein eigenes Werk an­greift, um mit den kurz danach erschienenen „Erläuterungen“ seine Thesen zu verteidigen.

Mit Erfolg. In Windeseile verbreitete sich die Kunstauffassung von der „edlen Einfalt und stillen Größe“, die der Autor als das „allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke“ hält, und zwar „sowohl in der Stellung als im Ausdrucke“. „Einfalt“ hat hier noch die positive Bedeutung von „einfach“, „ge­radlinig“. Dieses Ideal der klaren Formen, das Winckelmann vor allem in der Figurengruppe des mit einer Riesenschlange kämpfenden Laokoons sah, empfahl er allen Künstlern zur Nachahmung.

Das war insofern revolutionär, da noch im Barock die Gelehrten und Dichter am Latein festhielten und die römische Antike als Vorbild sahen. Winckelmann kam zugute, dass er, aus einfachsten Verhältnissen kommend, nicht „verbildet“ war, als er die Kunstschätze am barocken Dresdener Hof be­trachtete. Statt in schwärmerische Verzückung zu geraten, richtete er einen idealisierenden Blick auf die ihm rätselhaften mythologischen Heldenfiguren, von deren nackten, muskulösen Körpern er sich wohl auch erotisch angezogen fühlte.

Die unbekümmerte Sicht des Autors, der nicht Nachbildung im Sinne von simplen Kopien forderte, sondern freie künstlerische Nachahmung, setzte unter Künstlern enorme Kräfte frei. Der Klassizismus in der Architektur und die Klassik in der Dichtkunst waren das Resultat. Die Dichter nahmen sich wie Klopstock be­reits im „Messias“, Johann H. Voss in seiner Homer-Übersetzung oder Hölderlin in vielen Oden das griechische Versmaß Hexameter vor. Der Winckelmann-Biograf Goethe wandte sich wie im Drama „Iphigenie auf Tauris“ griechischen Mythen ebenso zu wie Wieland in seinen Romanen. Und Lessing verfasste mit der ästhetischen Abhandlung „Laokoon“ eine Art Anti-Winckelmann, in der er als einer der Ersten die Thesen des Aufklärers aus Stendal zur Vergleichbarkeit von Ma­lerei und Poesie in Frage stellte.

Winckelmanns „Gedanken“ brachten ihn letztlich nach Rom, wo er sich gewissenhaft mit antiker Kunst und mit Archäologie beschäftigte. In seinem Hauptwerk „Geschichte der Kunst des Altertums“ erfasste er 1764 erstmals systematisch antike Kunstschätze. Das Werk gilt als Ge­burtsstunde der Kunstwissenschaft. Biografien von Künstlern wie durch Vasari gab es schon seit der Renaissance. Doch Winckelmann schrieb jetzt quasi eine Biografie der Kunst, die für eine ganze Epoche Maßstäbe gesetzt hat, da er darin den klassischen Stilbegriff ge­prägt hat. Das ist so, als würde einer in der Musik mit einer überzeugenden Botschaft wie „edle Eintönigkeit und große Stille“ die Peking-Oper zum idealen Stilprinzip erklären und damit die Abkehr vom dominanten angelsächsischen Pop einleiten. Es wäre ein Paradigmenwechsel.

Winckelmann wurde mit seinem bahnbrechenden Werk europaweit wie ein Rockstar gefeiert. 1768 erwartete man ihn von Rom kommend zu Besuch in der frischen Klassik-Metropole Weimar. Doch in Regensburg brach er seine Reise ab. Die deutsche Kultur deprimierte ihn. Er machte noch einen Abstecher nach Wien, wo er von Maria Theresia empfangen wurde, die ihm ein paar Gold- und Silber-Medaillen schenkte. Auf dem Rückweg nach Rom endete seine Reise am 8. Juni 1768 in einem Gasthaus in Triest. Winckelmann ließ einen hübschen Koch in sein Zimmer, der dessen Wiener Preziosen rauben wollte und ihn nach dessen Gegenwehr erdolchte.

Der gewaltsame Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer. „Wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel fiel die Nachricht von Winckelmanns Tode zwischen uns nieder“, schrieb Goethe später über den von vielen empfundenen Schock. Heute erinnert die Stadt Stendal mit einer jährlich vergebenen Winckelmann-Medaille an den großen Sohn. Außerdem gibt es dort das Winckelmann-Mu­seum, das aber ausgerechnet im Jubiläumsjahr geschlossen ist und erst am 26. März wiedereröffnet werden soll. Die edle Einfalt erwacht dann endlich wieder in stiller Größe.

Ausstellungstipp: In der Vertretung des Landes Sachsen-Anhalt beim Bund, Luisenstraße 18, 10117 Berlin, präsentiert die Stendaler Winckelmann-Gesellschaft noch bis zum 30. Juni 2018 die Schau Johann Joachim Winckelmann Archäologe – Aufklärer – Wissenschaftsbegründer. Zwei Lektüretipps: Zum Jubiläumsjahr sind bei J.B. Metzler von Martin Disselkamp und Fausto Testa das Winckelmann-Handbuch: Leben, Werk, Wirkung (374 Seiten, 99,95 Euro) und im Verlag Philipp von Zabern der von Friedrich-Wilhelm von Hase herausgegebene Band Die Kunst der Griechen mit der Seele suchend: Winckelmann in seiner Zeit (144 Seiten, 39,95 Euro) erschienen.