26.04.2024

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08.12.17 / Schicksalhafte Familiengeschichte im Kalten Krieg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-17 vom 08. Dezember 2017

Schicksalhafte Familiengeschichte im Kalten Krieg
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Die Autorin Nina Willner beschreibt in ihrem Buch „Vierzig Herbste“ sehr eindrucksvoll das Leben ihrer Angehörigen vom ersten Tag nach der deutschen Kapitulation bis zur Wiedervereinigung. Sie alle wurden von der Entwicklung der DDR auf ihre Art ge­prägt, auf die jeder unterschiedlich reagierte. Großvater Karl, der Schreckliches in US-Gefangenschaft erlebte, stellt sich der sowjetischen Besatzungsmacht zur Verfügung und wird zum Ideal des kommunistischen Erziehers. Bald aber zweifelt er und zerbricht innerlich. Nur noch das Wohl seiner Familie erscheint ihm wichtig. Dasselbe gilt für seine Frau Erna, die gottesfürchtig und rechtschaffen ist. Sie bedauert, dass ihr Sohn aus naivem Idealismus begeisterter Kommunist wird. Enkelin Hanna gelingt unter abenteuerlichen Umständen die Flucht in den Westen, niemand in der Familie wusste von dem Plan. 

Der Leser erlebt den wachsenden Druck des SED-Regimes und die Berliner Blockade. In der DDR entsteht der Staatssicherheitsdienst mit seinem Spitzelsystem. „Was wird aus unserem Land“, fragt sich die Oma, „wenn eine Mutter nicht einmal ihren Kindern trauen kann und diese nicht mehr ihren Eltern?“ Hanna ist  im Hauptquartier der US-Armee ange­stellt, was sie leichtsinnigerweise ihren Eltern schreibt. Wurden Omas Anträge, sie besuchen zu können, bisher abgelehnt, so darf sie nun­mehr reisen; Bedingung sei, diese in die DDR zurück-zuholen und bei den Amerikanern „ein paar spezielle Dinge für ihr Land zu tun“ – was Oma gar nicht versucht. 

Nach der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 wird die Fluchtwelle noch stärker. Hanna lernt einen US-Offi­zier kennen. 1958 heiraten sie, angesichts ihrer DDR-Herkunft nicht ohne Schwierigkeiten. Ihre Eltern dürfen sie zu ihrem Erstaunen bald in Heidelberg besuchen – mit der Weisung, möglichst viel über ihren Schwiegersohn und seinen Zugang zu Geheimsachen zu erfahren. Opa, der einen kritischen Brief an Ulbricht schrieb, wird als Lehrer entlassen und aus der SED ausgeschlossen – er ist ein alter, gebrochener Mann. Ist es Zufall, dass Heidi als einziges im Haus verbliebenes Kind nur schwer eine Arbeitsstelle findet? Bei einem Telefonanruf von Hanna, die mit ihrem Mann inzwischen in den USA lebt, ist die Leitung schnell tot.

Unter Honecker verbessert sich das DDR-Alltagsleben. Ein Grund dafür dürfte der Freikauf Bonns von politischen Häftlingen sein –etwa eine Milliarde Dollar bringt dieser Menschenhandel. Oma stirbt, bis zuletzt glaubte sie an ein Wiedersehen der gesamten Familie. Honecker, der die internationale Anerkennung anstrebt, fördert massiv den DDR-Sport. Heidis Tochter Cordula wird ins Nationalteam aufgenommen. Zu etwa gleicher Zeit tritt Nina, Tochter des deutsch-amerikanischen Ehepaars, dem Geheimdienst der US-Armee bei. Bald wird sie in West-Berlin als erste Frau der US-Militärverbindungsmission zugeteilt, die geheimdienstliche Operationen in der DDR durchführt: Gilt es doch, die dortige mi­litärische Lage zu erkunden. 

Im fernen Moskau leitet Gorbatschow angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs seines Landes etliche Reformen ein, während Honecker diese hartnäckig ablehnt. Cordula wird Mitglied im Trainingsteam für die Olympischen Spiele. Um ihre einzigartige Perspektive nicht zu gefährden, bricht Heidi jeglichen Kontakt zum Westen ab. 

Im August 1989 beginnen in der DDR größere Demonstrationen. Im Gegensatz zu 1953 fühlen sich die Menschen gestärkt durch ihre Gewissheit, auf den Beistand Gorbatschows bauen zu können; hatte er doch erklärt, sie hätten das Recht, ihre Zukunft selber zu bestimmen. Am 9. Oktober erlebt Leipzig 300000 Demonstranten mit ihrer Parole „Wir sind das Volk!“ Erstmals müssen die vielen eingesetzten Bereitschaftspolizisten vor ihnen zurückweichen. Doch während viele im Westen darin den Anfang vom Ende der DDR sehen, glaubt man in der Familie, all diese Unruhen seien Teil eines großen Täuschungsmanövers der Stasi mit dem Ziel Abtrünnige aufzuspüren und einzusperren. 

40 Jahre nach ihrer Flucht, fliegt Hanna in ihre Heimat, um die ganze Familie wiederzusehen. Wer würde die Stunden tief empfundener Ergriffenheit, grenzloser Freude nicht verstehen – aber auch der Trauer um all jene, die jenen Tag nicht mehr miterleben durften. 

Nina Willner: „Vierzig Herbste“, Propyläen-Verlag Berlin 2017, gebunden, 427 Seiten, 25 Euro