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15.12.17 / »Neue Stufe im europäischen Abenteuer« / Vor zehn Jahren unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der seinerzeit 27 EU-Mitgliedsländer den Vertrag von Lissabon

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-17 vom 15. Dezember 2017

»Neue Stufe im europäischen Abenteuer«
Vor zehn Jahren unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der seinerzeit 27 EU-Mitgliedsländer den Vertrag von Lissabon
Wolfgang Kaufmann

Der Vertrag von Lissabon stellte laut Aussage des portugiesischen Ministerpräsidenten José Sócrates Carvalho Pinto de Sousa eine „neue Stufe im europäischen Abenteuer“ dar und stieß auf vielfältige Kritik. Trotzdem trat das Regelungswerk schließlich mit mehrmonatiger Verspätung in Kraft. 

Angesichts der kontinuierlichen Erweiterung der Europäischen Union seit Mitte der 1990er Jahre sollte die EU einer grundlegenden institutionellen Reform unterzogen werden, damit sie auch bei größerer Mitgliederzahl handlungsfähig blieb. Dies gelang aber weder durch den Vertrag von Amsterdam (1997) noch durch den von Nizza (2001). Ebenso scheiterte der Versuch, die Grundlagenverträge der EU durch einen gänzlich neuen „Verfassungsvertrag“ zu ersetzen, 2005 am ablehnenden Votum der Wähler in Frankreich und den Niederlanden. Dahingegen verlief der vierte Anlauf zur Umkrempelung der Union erfolgreich. Allerdings mussten die Verfechter des Vorhabens tief in die Trickkiste greifen, um es auf den Weg zu bringen. Beispielsweise wurde der am 13. Dezember 2007 abgeschlossene „Tratado de Lisboa“ als bloße Abänderung der bestehenden Übereinkünfte zur EU hingestellt, obwohl er von der inhaltlichen Substanz her gleichfalls ein Verfassungsvertrag war.

Außerdem wies der neue Grundlagenvertrag der Europäischen Union, für dessen Zustandekommen sich ganz besonders auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel stark gemacht hatte, schwerwiegende Mängel auf. So reduzierte er die Vetomöglichkeiten der einzelnen Mitgliedsländer durch die Einführung der sogenannten doppelten Mehrheit: Entscheidungen erlangten nun bereits Gültigkeit, wenn eine Mehrheit von Staaten (55 Prozent) zustimmte, die gleichzeitig für die Mehrheit der EU-Bevölkerung (65 Prozent) stand. Damit kam es de facto zu einer Machtverschiebung zugunsten der sehr großen und sehr kleinen EU-Mitglieder.

Zugleich änderte der Vertrag auch nichts am grundsätzlichen Demokratiedefizit in Europa. Der EU-Kommission fehlte immer noch jedwede Legitimation durch den Wähler. Und das EU-Parlament, das nun mehr gesetzgeberische Zuständigkeiten erhielt, ging weiterhin aus Wahlen hervor, die zwar allgemein und geheim, aber nicht gleich waren. So repräsentierte gemäß der neu ausgehandelten Sitzverteilung ein maltesischer Abgeordneter 67000 Stimmberechtigte des Inselstaates, während sein deutscher Kollege 811000 Wähler vertrat. Desgleichen erhielt das Parlament erneut kein Initiativrecht bei gesetzgeberischen Vorhaben und keine Zuständigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Noch problematischer war in diesem Zusammenhang, dass nationale Regierungen nach wie vor auf dem Umweg über die EU Gesetze durchboxen konnten, die das eigene, demokratisch legitimierte Parlament nicht passiert hätten. Ein Beispiel hierfür ist die EU-Verordnung zum Glühlampen-Verbot, die letztlich einer Initiative des damaligen Bundesumweltministers Sigmar Gabriel (SPD) entsprang, der damit im Bundestag chancenlos war, aber in Brüssel – quasi „über Bande spielend“ – zum Erfolg kam. 

Eine weitere wichtige Neuerung des Vertrages von Lissabon war, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union nun Gültigkeit erlangte. Besonderes Aufsehen erregten in diesem Zusammenhang die juristisch ebenfalls verbindlichen Erläuterungen zu Artikel 2 Absatz 2 des Grundrechtskataloges, der die Todesstrafe untersagt. Sie enthalten nämlich den Passus: „Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen; b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern; c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen.“ Darin sehen viele Kritiker des Lissabonner Vertrages den Versuch, die nationalen Verbote der Todesstrafe auszuhebeln. Auch wenn der Artikel 53 der Urkunde ausdrücklich das „Günstigkeitsprinzip“ betont, wonach die Charta keine Verschlechterung der Rechtslage des Individuums gegenüber den einzelstaatlichen Verfassungen und somit auch dem deutschen Grundgesetz herbeiführen dürfe, bliebe am Ende wohl die Probe aufs Exempel abzuwarten, was im Falle eines „Aufruhrs oder Aufstandes“ – beispielsweise gegen die Brüsseler Eurokraten – dann tatsächlich geschieht.

Im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker positiv ist am Vertrag von Lissabon hingegen zu sehen, dass seitdem klare Regelungen für einen freiwilligen Austritt aus der EU existieren. Zudem kam es zu einer Verschärfung der Beitrittskriterien.

Wegen ihrer Mängel stieß die Übereinkunft vom 13. Dezember 2007 auf vielfältigen Widerstand. So ratifizierte Irland den Vertrag zunächst nicht, weil sich die Wähler auf der Insel am 12. Juni 2008 mehrheitlich dagegen aussprachen. Allerdings sorgten die EU-Befürworter für eine Wiederholung des Referendums, das dann am 2. Ok­tober 2009 vor dem Hintergrund der schweren Wirtschaftskrise 67,1 Prozent Ja-Stimmen erbrachte. In Frankreich wiederum musste erst die Verfassung geändert werden, damit das Parlament den Vertrag ohne nochmalige Volksbefragung ratifizieren konnte. Weitere Opposition regte sich in Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Österreich und Großbritannien.

In Deutschland votierte der Bundestag am 24. April 2008 mit 515 gegen 58 Stimmen für den Vertrag; das gleiche tat der Bundesrat am 23. Mai 2008 mit den Stimmen aller Länder außer Berlin. Noch am selben Tag reichte der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler Klage vor dem Bundesverfassungsgericht ein. Dem schlossen sich weitere Einzelpersonen und die Bundestagsfraktion der Linkspartei an. Nach einer vergleichsweise kurzen Verfahrensdauer entschied das Karlsruher Gericht am 30. Juni 2009, dass der Vertrag verfassungskonform sei. Jedoch verstoße das nationale Begleitgesetz hierzu insofern gegen das Grundgesetz, als die Rechte von Bundestag und Bundesrat zu kurz kämen. Daraufhin erfolgte bis zum 1. Oktober 2009 die Verabschiedung von vier neuen Begleitgesetzen. Danach fertigte der damalige Bundespräsident Horst Köhler die Ratifikationsurkunde aus. Kurz darauf trat der Lissabonner Vertrag am 1. Dezember 2009 mit elfmonatiger Verspätung in Kraft.