28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
15.12.17 / Der unwiderstehliche Opferstatus / Warum sich psychische Krankheiten wunderbarerweise immer mehr vermehren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-17 vom 15. Dezember 2017

Der unwiderstehliche Opferstatus
Warum sich psychische Krankheiten wunderbarerweise immer mehr vermehren
Burkhard Voß

Sie waren noch nicht Opfer einer Naturkatastrophe, einer Kampfhandlung oder eines Kriegseinsatzes? Kein Problem. Auch Sie können eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln einschließlich des damit verbundenen, unanfechtbaren Opferstatus, der Sie moralisch integer macht und von jeglicher Eigenverantwortung befreit. 

Schon nach den derzeitigen Kriterien muss man keine Katastrophen erlebt haben. Deren Zeuge gewesen zu sein reicht aus. Beispielsweise als Zuschauer des Films „Rosemarys Baby“. Hier sollte man konsequent sein, auch wenn Konsequenz nach dem amerikanischen Philosophen und Dichter Emerson (1803 – 1882) ein Kobold ist, der in engen Köpfen spukt. Nach dem Volksglauben sind Kobolde ambivalente Wesen, die nicht nur Krankheiten und Unglück verursachen, sondern auch wertvolle Ratschläge geben. Und was kann für Therapeutenzunft und Psychoindustrie wertvoller sein, als die ständige Vermehrung psychischer Krankheiten? 

Selbstverständlich kann die Pflege eines todkranken Angehörigen ganz schön emotional belastend sein. Ist der Pflegende deswegen automatisch traumatisiert und psychisch krank? Eindeutig ja, wenn man einigen federführenden Psychotraumatologen folgt. Genauso wie ein Begräbnis der plötzlich und unerwartet verstorbenen 98-jährigen Urgroßmutter.

Psychiatrie und Psychotherapie laufen Gefahr, dass in Kürze jede Befindlichkeit, die einem irgendwie nicht in den Kram passt, zur psychischen Erkrankung hochstilisiert wird. Wenn die gängigen diagnostischen Kriterien immer noch nicht ausreichend sind, wird eben das Zauberwörtchen „komplex“ vorangesetzt, ob komplexe PTBS oder komplex-familiärer Hintergrund.

 Genauso wie man mit „modern“ den größten Blödsinn schönreden kann, kann mit „komplex“ jedes negative Gefühl irgendwann in eine internationale Klassifikation psychischer Erkrankungen aufgenommen werden. Was die Universalpathologisierung menschlicher Emotionalität angeht, da will auch die Justiz nicht zurückstehen, einschließlich ihrer Opferanwälte und sonstiger Entschädigungsakrobaten. Diese ungewöhnliche Bezeichnung kann durchaus treffend sein. 1995 wurde der Fall des gesunkenen Fischereifahrzeugs „Aleutian Enterprise“ bekannt, wo Rechtsanwälte überlebende Matrosen mit Symptomlisten gezielt darauf vorbereiteten, eine posttraumatische Belastungsstörung zu simulieren. Dass die Diagnose der PTBS seit der offiziellen Aufnahmen ins DMS, den diagnostischen und statistischer Leitfaden psychischer Störungen, exponenziell zugenommen und die PTBS weltweit die wohl am häufigsten simulierte Erkrankung ist, sollte bei der Pflicht zur Hilfe nicht in völlige Vergessenheit geraten. Auch und gerade angesichts der Asylkrise.

Schon beginnen einige kommunale Behörden ihre Mitarbeiter in Pflichtfortbildungen zu schicken mit dem Thema: „Wie gehe ich mit traumatisierten Flüchtlingen um?“ Ohne Zweifel in guter Absicht. Aber schon für psychiatrische Fachärzte und Psychologen ist es nahezu unmöglich, nur durch das Gespräch eine Traumatisierung valide zu diagnostizieren. Das Motto dieser Fortbildungen scheint wohl zu lauten: „Wir können eine Traumatisierung nicht sicher erkennen, wissen aber ganz sicher, wie wir mit ihr umzugehen haben.“ Sicher gut für ein gutes Gewissen.

Wenn Traumafolgestörungen derzeit geltend gemacht werden, so geht es vor deutschen Gerichten kaum um Kriegshandlungen, Schiffsuntergänge oder Flugzeugabstürze. So können nach dem sozialen Entschädigungsrecht oder der gesetzlichen Unfallversicherung schon lautstarke verbale Auseinandersetzungen im Berufsleben zu einer entschädigungspflichtigen psychoreaktiven Belastung führen. 

Um dem vorzubeugen, gibt es demnächst bestimmt einen Empathie-Coach. Denn es geht ja nicht nur darum, was der eventuell Geschädigte erlebt hat, sondern auch wie er es erlebt hat. Das wiederum hängt natürlich auch von der Kindheit ab, natürlich gefühlt, nicht wie sie tatsächlich war. Was sich prinzipiell auch nicht überprüfen lässt, da Zeitreisen in die Vergangenheit noch nicht zum Untersuchungsre­pertoire von Therapeuten gehören. Unabhängig davon biegt sich das Gedächtnis alles so zurecht, wie es am besten zum Opfer selbst passt.

Natürlich bin ich Opfer der Gefrierfachatmosphäre im Elternhaus, Opfer einer oberflächlichen, demoralisierten, konsumwütigen Gesellschaft und Opfer einer politisch unkorrekt gedrillten DNA. Das Schöne: Wenn ich Opfer bin, bin ich entlastet durch das Auffinden der einen Ursache für mein Jammertal und brauche mich nicht mehr mit der komplexen (ja, in diesem Zusammenhang sollte man das Zauberwörtchen stehen lassen) Wirklichkeit auseinanderzusetzen und schon gar nicht mit mir selbst, meinen eigenen unangenehmen Seiten und Defiziten. Im Zeitalter der narzistischen Selfie-Fetischisten ist dies wohl ein unwiderstehliches Gebräu.

Der Autor arbeitet als Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie in Krefeld. 2017 erschien sein Buch „Albtraum Grenzenlosigkeit” (Solibro Verlag)