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22.12.17 / »Christen bilden keine Ghettos« / Interview mit dem chaldäisch-katholischen Erzbischof von Kirkuk-Sulaimaniya, Joseph Thomas Mirkis

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51/52-17 vom 22. Dezember 2017

»Christen bilden keine Ghettos«
Interview mit dem chaldäisch-katholischen Erzbischof von Kirkuk-Sulaimaniya, Joseph Thomas Mirkis
Bodo Bost

Joseph Thomas Mirkis ist seit 2014 der chaldäisch-katholische Erzbischof von Kirkuk-Sulaimaniya im Nordirak. Geboren wurde er 1949 in Mossul, der Stadt, die drei Jahre lang vom Islamischen Staat (IS) beherrscht wurde. Er hat in Paris und Straßburg studiert und ist Mitglied des katholischen Dominikanerordens. Vor seiner Bischofsernennung hatte er eine theologische Fakultät in Bagdad aufgebaut und zwei arabischsprachige christliche Zeitschriften ebenfalls in Bagdad gegründet. Das PAZ-Interview in französischer Sprache führte Bodo Bost.

PAZ: Wie ist die Lage in Kirkuk wenige Wochen nach der Rückkehr der irakischen Armee in diese 2014 von kurdischen Peschmerga-Truppen gegen den Islamischen Staat verteidigte multi-ethnische Stadt im Norden des Irak?

Joseph Thomas Mirkis: Der Versuch einer Abspaltung der Stadt Kirkuk durch das kurdische Referendum vom 25. September ist gescheitert. Wie durch ein Wunder haben sich die kurdischen Streitkräfte ohne Ge­genwehr beim Anrücken der irakischen Armee am 15. Oktober zurückgezogen. Zum Glück hat es auch keine „Abrechnungen“ danach gegeben. Die kurdische Herrschaft war keine Unrechtsherrschaft wie etwa die des IS, der nur wenige Kilometer von Kirkuk entfernt gestoppt wurde. Die Kirche konnte unter kurdischer Herrschaft viele Programme für die Flüchtlinge aus den IS-Gebieten in den vergangenen Jahren aufbauen. Mein Erzbistum konnte mit Hilfe aus Europa in dieser Zeit Wohnungen für 700 geflüchtete Familien aufbauen und Studentenwohnheime für 500 Studenten. Jetzt hoffen wir auf gute Beziehungen zur irakischen Zentralregierung. Wir sind unserem Präsidenten Al-Abadi dankbar, dass er eine kluge und gerechte Politik macht und versucht, die Ordnung in unserem geschundenen Land wiederherzustellen. Er ist derzeit der populärste Politiker der arabischen Welt und einer der wenigen, die demokratisch gewählt sind.

PAZ: Wie hatten Sie den Vormarsch des IS im Jahre 2014 erlebt?

Mirkis: Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass sie sich überall in der Region ausbreiten würden. Bevor der IS Mossul eroberte, haben wir den Flüchtlingen aus Syrien geholfen. Nach dem Fall Mossuls kamen Flüchtlinge aus dieser Stadt nach Karakosch und in andere christliche Dörfer der Ninive-Ebene. Zwei Monate später nahm der IS auch die christlichen Städte und Dörfer in der Ninive-Ebene ein. 130000 Menschen flohen von dort und zogen nach Norden in die kurdischen Regionen. Die Flüchtlingswelle war groß, es war ein richtiges Chaos. Viele Menschen, besonders Kinder, starben. Einmal hat der IS auch versucht, nach Kirkuk vorzudringen. Diesen Angriff bereitete er mit einer Serie von Selbstmordattentaten in der Stadt vor, denen Angriffe auf christliche Einrichtungen folgten. Wie durch ein Wunder wurden die IS-Kämpfer jedoch nach einem Tag wieder vertrieben. Es gab jedoch viele Tote. 

PAZ: Wie ist die Lage in Mossul, der Stadt, die drei Jahre lang unter der Kontrolle des IS war?

Mirkis: Mossul ist befreit. Aber die Zerstörungen sind sehr groß, obgleich unterschiedlich, je nach Stadtteil. Die Gebiete jenseits des Euphrat haben am wenigsten gelitten, weil der IS diese Stadtteile kampflos geräumt hat. Deshalb konnte hier die Universität von Mossul bereits wieder ihre Tore öffnen. Aber auf dem Westufer des Euphrat im Stadtzentrum sieht es anders aus. Hier sind große Teile fast vollständig zerstört und viele Gebiete noch vermint. Die Menschen von Mossul haben sich entschieden, so schnell wie möglich einen Schlussstrich unter die ­IS-Terrorherrschaft zu ziehen und einen Neuanfang zu wagen. Die Christen und Jesiden haben noch Angst, nach Mossul zurückzukehren. Allzu viele haben erlebt, wie selbst ehemalige Nachbarn bei Ankunft des IS mit diesem gemeinsame Sache gemacht hatten und sich an dem Besitz der Christen bereicherten. Hier bedarf es sicher langer, auch juristischer Nachforschungen, bis die Dinge geklärt sind und bis die Christen wieder in ihre Häuser in Mossul zurückkehren können. In der Zwischenzeit bauen wir mit Hilfe der Kirchen aus Europa jedoch die christlichen Dörfer und Städte in der Ninive-Ebene wieder auf, und hierher sind bereits viele Christen aus Erbil und Kirkuk zurückgekehrt. Der Irak braucht einen Marschallplan für diesen Wiederaufbau. 

PAZ: Kürzlich gab es Berichte, dass das irakische Parlament über einen Gesetzentwurf zur Familiengesetzgebung entscheiden soll, der das Heiratsalter für Mädchen auf neun Jahre herabsetzen soll. 

Mirkis: Es gibt im irakischen Parlament mit 375 Abgeordneten einen islamistischen Block mit wenigen Abgeordneten, der das Heiratsalter für Mädchen in der Tat auf neun Jahre senken will. Aber dieser Vorschlag hat national wie international so weite Wellen geschlagen, dass der Block ihn schließlich zurückgezogen hat. Der Irak ist eine funktionierende Demokratie, sogar die Frauen sind gegen diesen Gesetzesvorschlag auf die Straßen gegangen. Die Amerikaner haben bei ihrem Einmarsch in den Irak 2003 einen Fehler gemacht, als sie die kommunitaristischen Strömungen bestärkt haben, die unser Land nach den ethnischen und religiösen Gruppen einteilen, und dabei das ganze Land aus dem Blick verloren. Dies hat 2009 nach dem Abzug der Amerikaner zu einem Chaos geführt, in dem der IS entstehen konnte. Diesen Fehler möchte unsere derzeitige Regierung wieder zurücknehmen. Heute gibt es im Irak sogar Strömungen, die den schiitischen wie den sunnitischen Islam reformieren möchten. Dies wird auch zu einer Verbesserung des christlich-islamischen Dialogs beitragen. 

PAZ: Kürzlich konnte erstmals ein katholischer Kardinal, nämlich der Libanese Rai, Saudi-Arabien besuchen. Wie schätzen Sie dieses Ereignis ein?

Mirkis: Die Lage in Saudi-Arabien ist sehr schwer einzuschätzen. Dort gibt es allein bis zu 7000 Prinzen, allesamt Nachkommen in erster, zweiter und dritten Generation von König Abdel­aziz ibn Saud. Innerhalb dieser Prinzenschaft hat es kürzlich einen Staatsstreich gegeben. Der aktuelle König Salman ist einer der jüngsten Söhne von Abdelaziz, er hat die Nachfolgeregel geändert und seinen eigenen Sohn Mohammed ibn Salman zum Thronerben ernannt und damit eine Palastrevolte ausgelöst. Jetzt wurden in einer Verhaftungswelle 70 dieser Prinzen verhaftet, unter dem Vorwand korrupt zu sein, die sich dieser Nachfolgeregelung in den Weg stellen wollten. Die gesamte Region des Nahen und Mittleren Osten wird noch große Umwälzungen erfahren. Auch die Vorgänge in der Türkei, ein direkter Nachbar des Irak, beunruhigen uns sehr. Erdogan möchte dort auch einen „Islamischen Staat“ einrichten.

PAZ: Wie kann man das Phänomen IS verstehen und seine Attraktivität auf so viele junge Menschen in Europa?

Mirkis: Der IS hat zunächst einmal eine gewisse Anziehungskraft auf gesellschaftliche Randgruppen, wie es alle Terrorbewegungen auch in Europa einmal hatten. Dazu hat der IS noch viele Attribute einer religiösen Sekte, mit denen er religiös suchende Menschen anspricht. In Europa sind Sekten etwas normales, da es die Freiheit des Kultus und der Religion gibt. Aber im Islam hat es seit dem Aufkommen der Haschaschin im Alawiten-Gebirge im heutigen Syrien im Mittelalter ein Verbot von Sekten gegeben. Deshalb ist das Entstehen des IS im sunnitischen Islam von vielen Muslimen wie eine gottgewollte Revolution aufgenommen worden, ähnlich wie die islamische Revolution im schiitischen Iran 1979. Dazu kam, dass der IS eine Rückkehr zum Islam der Urzeit anstrebt. Durch die Krise der Arabellion waren der Islam und die arabischen Regierungen enorm geschwächt. Dadurch konnte sich der IS in so vielen Ländern, nicht nur im Irak und Syrien, auch im Jemen, Somalia und Libyen ausbreiten und quasi staatliche Strukturen übernehmen. Auch die Digitalisierung und die Globalisierung haben dem IS in die Hände gespielt.

PAZ: Welche Zukunft sehen Sie für die Christen im Irak?

Mirkis: Es kommt nicht auf die Zahlen der Christen an, die zurückgehen. Die Liebe wirkt über die Zahl der Christen hinaus in die Herzen auch der Nichtchristen. Ich selbst habe die Bibel in Arabisch, Kurdisch und Aramäisch übersetzt, allein über diese Sprachen erreichen wir orientalischen Christen Millionen Menschen, die sonst das Wort Gottes nicht hören würden. Viele Muslime entdecken in der Krise ihrer eigenen Religion, und der IS ist ein Anzeichen dieser Krise, gerade in der Bibel eine neue Kraft in ihrem Leben. Aber die orientalischen Christen machen keinen Proselytismus (etwa: aggressive Missionierung), weil er zu gefährlich ist für die Muslime und weil er an die Pharisäer des Neuen Testaments erinnert. 

PAZ: Wo sehen Sie die Zukunft der irakischen Christen, eher unter kurdischer oder arabischer Herrschaft? Immerhin hat die irakische Armee Mossul und Kirkuk nicht verteidigt gegen den Ansturm des IS 2014.

Mirkis: Es ist richtig, dass die Kurden in der Bedrängnis den Christen beigestanden haben, weil auch die Kurden jahrzehntelang verfolgt wurden und oft nur eine Minderheit sind im Orient, wie die Christen. Aber als die Kurden mit dem Referendum den Weg des Separatismus eingeschlagen haben, haben sie einen Fehler gemacht und die Zeichen der Zeit nicht richtig gedeutet. Die Christen haben immer auf beiden Seiten der Fronten gelebt und sich mit vielen Herrschern arrangiert. Christen bilden keine Ghettos, weder im Osten noch hier in Europa, das sage ich auch unseren Auswanderern immer wieder. Auch die Idee einer christlichen territorialen Autonomie in der Ninive-Ebene ist eine Idee, die von Emigranten vorgetragen wird, die schon den Kontakt in die Heimat verloren haben. Christen dürfen sich nicht absondern, sondern die Gemeinschaft mit allen Menschen suchen. Deshalb lehnen wir Bischöfe im Irak, auch nach der Erfahrung der IS-Terrorherrschaft, die Idee einer Autonomie in der Ninive-Ebene, ab.