Lange bevor in Deutschland der Begriff „Literaturpapst“ für einen allmächtigen Literaturkritiker geläufig wurde, gab es einen Theaterpapst. Alfred Kerr konnte als Theaterkritiker Karrieren fördern – und vernichten. Von 1900 bis 1933 war der am ersten Weihnachtstag 1867 in Breslau geborene Sohn eines jüdischen Weinhändlers die dominante Stimme in den Berliner Feuilletons. Nachdem er fünf Jahre lang für seine heimatliche „Breslauer Zeitung“ Berichte aus Kultur und Gesellschaft geliefert hatte, verfasste er für den „Berliner Tag“, das „Berliner Tageblatt“ und später auch für die „Frankfurter Zeitung“ bissig-pointierte Theaterkritiken.
Daneben schrieb er aber auch 25 Jahre lang für die „Königsberger Allgemeine Zeitung“. Die Biografin Deborah Vietor-Engländer („Alfred Kerr: Die Biographie“, Rowohlt Verlag 2016, 720 Seiten, 29,95 Euro) entdeckte erst vor wenigen Jahren, dass sich hinter dem Kürzel „A.K.“, das von 1897 bis 1922 am Ende einer „Berliner Plauderbriefe“ genannten Sonntagskolumne stand, der berühmt-berüchtigte Alfred Kerr verbarg. 1000 solcher Beiträge soll Kerr für das ostpreußische Blatt geschrieben haben, wobei man in den Archiven bisher erst die Hälfte davon aufspüren konnte. Vietor-Engländer hofft, dieses Werk komplettieren zu können, „weil es eine lebensnahe Geschichte Berlins enthält, eine einzigartige Dokumentation voller Geist, Humor, oft Wehmut“.
Kerr, der eigentlich Kempner hieß und der seinen Namen änderte, um nicht mit der damals populären Schriftstellerin Friedericke Kempner in Verbindung gebracht zu werden, lebte nach 1933 mit seiner Familie im englischen Exil. Seine Tochter machte sich als Schriftstellerin Judith Kerr weltweit einen Namen, und sein Sohn Michael wurde als einer der obersten Richter Englands geadelt. Kerr selbst erlitt nach einem Theateraufenthalt in Hamburg 1948 einen Schlaganfall und setzte, da er nicht mehr schreiben konnte, seinem Leben am 12. Oktober 1948 mit einer Überdosis Schlaftabletten ein Ende.