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22.12.17 / Warum faule Eier teurer sein müssen / Die Mehrwertsteuer feiert Geburtstag – und bleibt ein Rätsel

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51/52-17 vom 22. Dezember 2017

Warum faule Eier teurer sein müssen
Die Mehrwertsteuer feiert Geburtstag – und bleibt ein Rätsel
Klaus J. Groth

Vor 50 Jahren, am 1. Januar 1968, wurde die Mehrwertsteuer eingeführt. Sie spült seitdem zusätzliche Milliarden in die Staatskasse.

Gibt es einen fiskalischen Unterschied zwischen dem Trockenmoos, das in Gärtnereien für Gestecke und Kränze in trockenem Zustand verwandt wird, und jenem Trockenmoos, das in Zoogeschäften erhältlich ist und Terrarienbewohnern als Substrat ein angenehmes Feuchtgebiet bereitet? Für Beamte des Bundesfinanzministeriums ja. Trockenes Trockenmoos sollte zum ermäßigten Mehrwertsteuersatz verkauft werden dürfen, feuchtes Trockenmoos aber zum vollen Satz. Mit solchen Ungereimtheiten war die Liste der Dinge und Dienstleistungen mit ermäßigtem Steuersatz gespickt, die das Finanzministerium zur Erhebung der Mehrwertsteuer erarbeitet hatte. Die „Mehrwertsteuerfibel“, erhältlich für eine Schutzgebühr von 50 Pfennig, stiftete denn auch mehr Verwirrung, als dass sie für Klarheit sorgte. 

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Wieso gilt bei Katzenfutter und Hundekeksen der ermäßigte, für Babybrei und Kinderkekse aber der volle Steuersatz? Warum sind Fische, Krebstiere und wirbellose Weichtiere zu ermäßigtem Steuersatz zu haben, Zierfische aber nicht? Warum sind Maultiere ermäßigt, echte Esel aber nicht? Warum sind Zucker und Zuckerwaren ermäßigt, ist Kakaopulver mit Zucker es aber nicht? Warum ist Eigelb ermäßigt, sind ungenießbare Eier ohne Schale es aber nicht? Warum um alles in der Welt soll der geprellte Kunde auch noch für vergammelte Eier den vollen Steuersatz bezahlen? Diese Rätsel konnte bislang niemand lösen.

Jahrelang hatten die Beamten des Finanzministeriums über Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen gebrütet. Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz, so verlangte es der Gesetzgeber, sollte aus sozialen Gründen für Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs gelten. Luxusartikel sollten voll versteuert werden. Als geistige Nahrung blieben Bücher, Zeitschriften und andere Druckerzeugnisse begünstigt. Medizinische Geräte und Hilfsmittel schließlich blieben grundsätzlich von der Mehrwertsteuer befreit. 

Die zahlreichen Abweichungen von der Regel sorgten für Konfusion und eine Flut von Klagen bis hin zum Europäischen Gerichtshof. Die Richter mussten zum Beispiel klären, warum für Bücher der ermäßigte Satz gilt, für 

E-Books aber nicht. Oder warum ein Döner zum Mitnehmen an der Imbissbude ermäßigt ist, der an Ort und Stelle servierte und verzehrte aber nicht. Beim E-Book handelt es sich um eine elektronische Dienstleistung, und beim Servieren eines Döners handelt es sich ebenfalls um eine Dienstleistung, wenn auch um keine elektronische, aber dieser Unterschied ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Und für derartige Dienstleistungen gilt der volle Satz. Wer wo Platz nimmt, kann die Höhe der Mehrwertsteuer maßgeblich beeinflussen. Babys sitzen im Kindersitz mit 19 Prozent, ihre Eltern im Sitz des Skilifts mit nur sieben Prozent Aufschlag. Die Liste der Kuriositäten lässt sich beliebig fortsetzen. 

Selbst kurz vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes ahnten die Bundesbürger noch nicht, welch dickes Ei im Bundestag gelegt worden war. Denn die „Mehrwertsteuerfibel“ war erst zwei Monate vor dem Stichtag fertig geworden. Für Wirtschaft und Handel reichte die Zeit nicht aus, um sich durch Hunderte von Positionen durchzuarbeiten. Die Presse schrieb, dieses Gesetzeswerk sei „absurd, hanebüchen, verwirrend, kaum nachvollziehbar“. Alle Proteste von Unternehmervertretern und Verbraucherorganisationen halfen nichts, versprach sich doch der Staat Mehreinnahmen in vielfacher Milliardenhöhe. Im Gegensatz zur Frage, warum das eine begünstigt ist und das andere nicht, lässt sich das Prinzip der Steuer selbst ganz leicht begreifen. Der Verkäufer einer Ware oder der Handwerker muss sie an das Finanzamt abführen, kann sie aber dem Kunden in Rechnung stellen. Die Verbraucher zahlen also die Zeche. Die Wirtschaft blieb aber nicht gänzlich verschont. „Westdeutschlands Unternehmen und Kaufleute müssen eine völlig neue Buchführung lernen“, schrieb der „Spiegel“ 1968. Das Errechnen und Ausweisen der Vorsteuer brachte zusätzliche Kosten mit sich. 

Zum Angewöhnen langte der Fis­kus zunächst noch relativ bescheiden zu. Der Mehrwertsteuersatz betrug anfangs zehn Prozent, ermäßigt fünf. Gleich im ersten Jahr nahm der Fiskus dadurch 12,8 Milliarden D-Mark ein. Von 1968 bis 2007 stieg der Steuersatz kontinuierlich an. Bei jeder geplanten Erhöhung warnten Wirtschaftsexperten vor einer negativen Auswirkung auf die Konjunktur, der Einzelhandel vor einem Preisauftrieb und das Handwerk vor einem Anstieg der Schwarzarbeit. Die Mehrwertsteuer blieb, wie jede andere einmal erhobene Steuer auch. „Man muss die Kuh melken, solange sie Milch gibt“, stellte der ehemalige Finanzminister Franz Josef Strauß fest. Die Mehrwertsteuer entwickelte sich zum Goldesel der Steuererhebung. Sie macht heute etwa 30 Prozent des gesamten Aufkommens aus. Den Löwenanteil, mehr als die Hälfte, behält der Bund, dann kommen die Länder und zuletzt die Gemeinden, die zwei Prozent erhalten. 

Schon immer war die Obrigkeit nicht zimperlich, wenn es darum ging, den Untertanen indirekte Steuern und Abgaben abzupressen, sei es durch Zölle oder allerlei Verbraucher- und Verkehrsabgaben, im Mittelalter Teloneum genannt. Im Ersten Weltkrieg führte das Deutsche Reich zur Deckung der Kriegskosten 1916 einen sogenannten Warenumsatzstempel, eine Abgabe von 0,1 Prozent ein. Die „Allphasen-Netto-Umsatzsteuer“ mit Vorsteuerabzug in Höhe von 0,5 Prozent wurde in der Weimarer Republik zur Finanzierung der Kriegsreparationen erhoben. 1936 stieg sie auf zwei Prozent, 1946 auf drei Prozent, 1951 auf vier Prozent. Den größten Sprung gab es 2007 mit einer Erhöhung von 16 auf 19 Prozent. Bei allem Ärger über die Abzocke sind die Deutschen noch ganz gut dran. Verglichen mit den anderen Ländern der EU zahlen sie den zweitniedrigsten Satz, nur das Großherzogtum Luxemburg gibt sich mit 15 Prozent und damit mit weniger zufrieden. Die EU-Länder können den Mehrwertsteuersatz selbst festlegen, er darf aber nicht unter 15 Prozent liegen. Spitzenreiter sind Dänemark, Schweden und Ungarn mit bis 25 Prozent, beim ermäßigten Satz werden überwiegend fünf Prozent gefordert.