19.04.2024

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05.01.18 / Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-18 vom 05. Januar 2018

Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

das Alte Jahr ist vergangen, das Neue hat begonnen, und unsere Familienarbeit geht weiter wie gewohnt, denn der Pungel mit Zuschriften ist stramm gefüllt. Greifen wir hinein und ziehen zuerst einen Beitrag von Herrn Jörn Pekrul heraus, der zu unseren Überlegungen Stellung nimmt, die wir in Folge 48 brachten. Sie trafen seinen Nerv, denn es ging um die Stadt, die er bis zum letzten Winkel durchstreift: Königsberg. Frau Dr. Tanja E. aus Bonn hatte sich an uns gewandt, weil sie kaum etwas über die ostpreußische Hauptstadt weiß, aus der ihre Großeltern und Eltern stammen. Diese hatten zumeist geschwiegen – vielleicht hatten sie die Vertreibung noch nicht verkraftet und waren blockiert, vielleicht hatten sie an ihrem neuen Wohnsitz auch kaum Menschen gefunden, mit denen sie über ihre Heimat sprechen konnten, vielleicht hatte die Enkelin zu wenig hinterfragt – wie auch immer: Sie wollte mehr über diese Stadt ihrer familiären Herkunft wissen und bat uns, ihr dabei zu helfen. Sie wollte erfahren, welches Lebensgefühl wir Ostpreußen aus der Generation ihrer Großeltern hatten und dieses noch bewahrt haben, um darüber sprechen zu können. So vereinbarten wir ein Gespräch bei mir, da ich ja diese Bedingungen erfüllte, und es wurde ein sehr ergiebiger Nachmittag für beide Teilnehmerinnen, weil wir uns mit Themen konfrontiert sahen, die uns bisher nicht oder kaum bewusst waren. Im Mittelpunkt des mehrstündigen Gesprächs stand immer der Begriff Lebensgefühl – für Frau Dr. E. so wichtig, um herauszufinden, was ihre ostpreußische Identität ausmacht. Dies hatte sie uns bereits vorher in ihrer ersten Mail mitgeteilt, und ich hatte die Themen schon in unserer Kolumne angedeutet. Fast umgehend griff Herr Pekrul dieses Thema auf und übersandte uns Anfang Dezember seine Gedanken über ein „Königsberger Lebensgefühl“, die wir nun heute bringen wollen, weil hier zwei Nachfahren sich treffen: die eine als Fragestellerin, der andere als Antwortgeber, aber beide mit großem Einfühlungsvermögen für die Welt ihrer Vorfahren, die sie auch in sich zu spüren glauben. Jörn Pekrul schreibt:

„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Dieser Satz von William Faulkner passt meines Erachtens sehr gut für das Königsberger Lebensgefühl. Es ist sehr gegenwärtig. Auch wenn wir nicht verallgemeinern wollen, so fallen mir immer wieder die gleichen Eigenschaften auf. Und zwar in meinem persönlichen Umgang mit Angehörigen der Erlebnisgeneration wie auch bei denjenigen Nachkommen, die dieses Lebensgefühl angenommen und für ihr eigenes Leben im Heute entwickelt haben. Dieses Lebensgefühl hat, so finde ich, zuerst seinen Ausdruck gefunden in der übermenschlichen Fähigkeit der Erlebnisgeneration, die von persönlicher Schuld oder Unschuld unabhängig erlittenen Traumata der Vertreibung und des totalen Verlustes nur im Stillen zu verarbeiten. Eine menschliche Würde, die der Jugend Ehrfurcht lehrt. Darüber hinaus haben sie unmittelbar danach am Wiederaufbau eines ihnen fremden Restlandes mitgewirkt: in bitterster materieller Armut, aber trotzdem konstruktiv, friedlich und Empathie fähig. Und das alles ohne Willkommenskultur und ohne Rundum-Sorglos-Paket. Dies zu können bedarf starker innerer Kräfte, die über die Jahrhunderte in der Kultur des Ostens unseres Landes entstanden sein müssen. Ein leuchtendes Vorbild, das bleibt, und die Nachgeborenen zu Dank verpflichtet.

Weiterhin finde ich die alte Stadt noch im Umgang mit meinen Königsberger Familien und Wahlverwandtschaften. Sofern ich es freimütig äußern darf schätze ich an ihnen die Tugenden, die wir in ganz Ostpreußen finden: Von Vernunft geprägt, Pragmatismus in Alltagsdingen und schließlich die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigen zu unterscheiden. Als wäre in einer über 750-jährigen Stadtgeschichte eine Prägung gewachsen, die eine Selbstredaktion zur Selbstverständlichkeit machte. Und dadurch – als gute Kehrseite – zu einer tieferen Empfindungsfähigkeit im seelischen Bereich befähigte. Die Herzlichkeit und Lauterkeit der Königsberger und des ostpreußischen Menschenschlages überhaupt sind legendär. Dieses In-sich-ruhen trägt dazu bei, den zwischenmenschlichen Umgang authentischer, respektvoller und unaufgeregter zu gestalten. Und das ist um ein Vielfaches interessanter, als wenn ich beliebige Kontakte über das Smartphone pflege. Welch ein Reichtum, von dem wir Nachgeborenen zehren können. Wir müssen uns nur dafür öffnen und es annehmen.

Auf einer allgemeinen Ebene vergleiche man die Debattenkultur vom ‘Königsberger Geist’ zum Heute. Die Überlieferungen zeigen, dass im alten Königsberg die Streitkultur ein bis heute nicht mehr erreichtes Spitzenniveau hielt: leidenschaftlich, tiefschürfend, suchend, Neugier auf andere Meinungen, Prüfung der Gründe und rationaler Vergleich mit den eigenen Maßstäben. In diesem Prozess fiel alles Unbrauchbare ab. Die Streiter waren selbstbewusst und intelligent genug, die Sachfragen nicht auf ein persönlich-emotionales Niveau herunter zu zerren. Wie faszinierend muss dieser Austausch, auch unbefangen über Standesgrenzen hinweg, gewesen sein. Hier hat das alte Königsberg einen hochattraktiven Maßstab für den heutigen Diskurs im Angebot. Universell nutzbar und bereichernd für jeden Teilnehmer. Zuletzt ist dieser „Königsberger Geist“ aber auch in anderen Lebensbereichen ein Gewinn, wie ich es immer wieder selber erleben darf. Vor kurzem hielt ich für die Erlebnisgeneration im Ruhrgebiet einen Bildvortrag. Er wurde von der hochtalentierten Cellistin Friederike Lisken musikalisch begleitet. Bei unseren Vorbereitungen begegnete der „Königsberger Wanderer“ einer künstlerischen Kompetenz, vor der er in die Knie ging. Begegnungen, Erfahrungen, Lebensweg und eine musikalische Entdeckung über die Grenzen von Königsberg hinaus. Das kann mir kein Smartphone bieten!“

Diese Ausführungen von Jörn Pekrul zu unserem Thema hätten eindringlicher nicht formuliert werden können und boten meinem Gast und mir eine gute Gesprächsgrundlage, die aber leider zeitlich begrenzt war, denn Frau Dr. Tanja E. war extra zu dieser Fragestunde nach Hamburg geflogen. Aber sie eröffneten ihr schon nach den ersten Sätzen gänzlich neue Vorstellungen von dem ursprünglichen Umfeld ihrer Familie, die ich ihr so nicht hätte vermitteln können, weil sie ja auf den Erkenntnissen eines Angehörigen der Nachfolgegeneration beruhen. Und die eigene Nabelbeschau liegt einer waschechten Ostpreußin schon gar nicht! Aber von den Kriterien, die Jörn Pekrul in seinem letzten Satz anführte – Begegnungen, Erfahrungen, Lebenswege – konnte ich als eine der ältesten der Erlebnisgeneration meinem so viel jüngeren Gast doch Einiges vermitteln. Vor allem dürfte Frau Dr. Tanja E. nun das Schweigen ihrer geflüchteten Großeltern überdenken, denn das erlittene Trauma der Vertreibung war nur im Stillen zu verarbeiten, wie Jörn Pekrul es formuliert. Das „Königsberger Lebensgefühl“ wird uns noch lange beschäftigen!

Wenn wir Frau Helga Bischoff aus Hamburg fragen würden, welch ein Lebensgefühl sie in Erinnerung hätte, wenn sie an ihre Jugend in Königsberg denke, dann wäre nur eine Antwort möglich: „Ein unbeschreibliches, denn es war die schönste Zeit meines Lebens.“ Und das kann man auch verstehen, denn die Elevin der Ballettschule der Königsberger Oper musste während ihrer dreijährigen Ausbildung an fast jeder Veranstaltung teilnehmen, und das tat sie auch mit großer Begeisterung. So gehen gerade jetzt im Winter ihre Gedanken zurück an die Bretter, die ihr die Welt bedeuten. „Für uns blutjunge Schüler war es eine zu schöne Jahreszeit mit den besonders festlichen Veranstaltungen wie den großen Gala-Abenden in der Stadthalle mit Erich Börschel. Besonders die Tanzabende waren für uns von riesiger Bedeutung und voller Erlebnisse. Es waren ja Kriegsjahre und eine traurige Zeit, aber wir spielten immer vor ausverkauftem Hause. Viele Vorstellungen waren ja für verwundete Soldaten reserviert, die durch unser Wirken freudige Stunden erleben konnten. Darüber waren wir alle sehr glücklich. Auf der Bühne fühlten wir uns immer wie im Traum, das helle Licht, die Musik, der Gesang, das Publikum, dazu die von uns verlangte Konzentration, denn jeder Schritt, jede Bewegung musste ja sitzen, immer ein Lächeln, wenn auch die Füße brannten, Haltung, Haltung und ganz wichtig: Disziplin und Anpassung. Für die zwei großen Tanzabende, die in jeder Spielzeit stattfanden, wurde fast das ganze Jahr unter der Choreographie von Ballettmeister Heinz Klee hart geprobt. An diesen großen Tanzabenden hatte jeder von uns eine bestimmte Rolle zu tanzen. Es war harte Arbeit, trotzdem waren wir mit Leib und Seele dabei und fieberten der Premiere entgegen.“ Im Mai 1944 hatte Helga Mischling aus der Altstädtischen Langgasse 72 es endlich geschafft: Mit fünf Ballettschülerinnen aus ihrer Klasse bestand sie vor der aus Berlin angereisten Prüfungskommission der Theaterkammer das Examen und erhielt den Leistungsnachweis für eine ausgebildete Operntänzerin. Diese Urkunde hat Helga nach gelungener Flucht im Berufsleben sehr geholfen. So konnte sie bereits im März 1946 in Hamburg an der Volksoper und als Gast in der „Flora“ mitarbeiten. Acht Jahre hat sie dann auf Hamburger Bühnen mit Leib und Seele getanzt und gesungen. Dass sie uns jetzt dieses Kapitel ihrer Lebensgeschichte übersandte, hat aber einen besonderen Grund: Immer zu Weih­nachten kommt die Erinnerung an die Märchenspiele, in denen sie in Königsberg mitwirkte, und dazu gehört vor allem „Der kleine Muck“, der 1942 die kleinen und großen Zuschauer erfreute. Nachdem der Vorhang gefallen war, gingen die Tänzerinnen im Engelgewand zu den Zuschauern und verteilten an die Kleinen Pfeffernüsse. So wie Helga Bischoff dies nie vergessen hat, ist es möglich, dass sich auch von diesen ehemaligen „Königsberger Kindern“ jemand an die Weihnachtsmärchen erinnert, die im Neuen Schauspielhaus stattfanden. Dazu gehört auch das Spiel „Die Goldene Gans“.

Eure Ruth Geede