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05.01.18 / Neujahr nach Schweizerart / 13 Tage verspätet – Im Appenzeller Land gehen die Uhren anders: Dort wird Silvester gleich zweimal gefeiert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-18 vom 05. Januar 2018

Neujahr nach Schweizerart
13 Tage verspätet – Im Appenzeller Land gehen die Uhren anders: Dort wird Silvester gleich zweimal gefeiert
Andreas Guballa

Der Julianische Kalender hinkt unserem Gregorianischen Kalender um 13 Tage hinterher. In der orthodoxen Kirche, wie der in Russland, wird er bis heute angewandt. Doch auch in der Schweiz hat der Kalender bis heute im Appenzeller Hinterland seine Spuren hinterlassen, weshalb dort mit dem Silvesterchlausen der Jahreswechsel erst am 13. Ja­nuar ge­feiert wird. 

Um fünf Uhr in der Früh ist die Winternacht im Appenzellerland noch stockdunkel und klirrend kalt. Doch in einigen Wirtshäusern brennt schon Licht, denn hier machen sich die sogenannten Silvesterchläuse fertig. Jede Gruppe dieser maskierten (Niko)-Läuse besteht aus fünf bis acht Männern, die Einheimischen sagen dazu „Schuppel“. Sie schlüpfen in Frauenkleider mit weißen Spitzenschürzen oder bunte Kniebundhosen aus Samt. 

Baumwollhauben werden ge­bunden, weiße Handschuhe angezogen, die ewig lächelnde Larve mit der kleinen Blume im Mundwinkel gerichtet. Zum Schluss müssen noch die gewichtigen Kuhglocken, die „Rollen“ und „Schellen“, geschultert und die riesigen Hüte aufgesetzt werden. Auf diesem Kopfschmuck – groß wie ein Wagenrad – spielt sich ein ganzes bäuerliches Leben im Kleinen ab. Kleine geschnitzte Figuren sind bei der täglichen Arbeit zu beobachten, manchmal tragen die Männer sogar ganze Almen im Miniaturformat auf dem Kopf. 

Der „Vorrolli“, der Anführer des „Schuppel“, trägt 13 Glocken an Brust und Rücken und hat einen solch gewaltigen Kopfschmuck, dass er nur noch im Entengang durch die Tür ins Freie kommt. Wenn alles gerichtet ist, bricht die Truppe im Gänsemarsch noch bei völliger Dunkelheit auf und macht sich im Laufschritt auf den Weg zum ersten Bauernhof. Für die Chläuse wird es ein langer und anstrengender Tag, denn Masken und Glocken bringen es auf bestimmt 30 Kilogramm, und der Weg von Hof zu Hof, bergauf, bergab und bis hinunter ins Dorf, ist weit. 

Hier in Urnäsch, einem kleinen Dorf mitten im schweizerischen Appenzellerland am Fuße des Säntis, gehen die Uhren anders. Denn wenn überall sonst auf der Welt das neue Jahr schon fast zwei Wochen alt ist, wird hier noch einmal Silvester gefeiert mit einem einzigartigen Brauch, dem Silvesterchlausen, das im außerrhodischen Hinterland, also in den Gemeinden Urnäsch, He­risau, Hundwil, Stein, Waldstatt, Schwellbrunn und Schönengrund, der eindrücklichste Winterbrauch ist. Die Wurzeln dieses Brauchtums kennt hier niemand mehr, vielleicht entstammen sie dem Mittelalter, vielleicht haben sie einen heidnischen Ursprung. Die Kirche jedenfalls hat das Chlausen nie gerne gesehen. 

Früher lebten sie hier nach dem julianischen Kalender, doch als irgendwann der Papst, den sie als Protestanten sowieso nicht be­sonders mochten, den gregorianischen Kalender einführte und sich damit der Beginn des neuen Jahres verschob, feierten sie Silvester kurzerhand zwei Mal: Nach dem neuen Kalender am 31. De­zember, aber auch weiterhin nach dem alten am 13. Januar. 

Es ist eine besondere Ehre, ein „Schuppel“ auf dem Hof zu Gast zu haben. Anfangs werden die Glocken und Schellen zum Klingen gebracht, und dann stimmen sie ihr „Zäuerli“ an, einen hohen Männergesang, der weit durchs Tal schallt und einem Jodler ohne Worte noch am ehesten ähnelt. Der Hausherr und seine Familie lauschen andächtig und ergriffen. Drei Mal wiederholt sich das Schauspiel von Gesang und Ge­läut, dann wünschen die Chläuse allen mit kräftigem Händedruck ein gutes neues Jahr. Zum Dank bekommen sie Glühwein, den sie mit einem Strohhalm durch die Maske trinken. Dezent nach Schweizerart wechselt bei dieser Gelegenheit ein Geldschein den Besitzer. 

Gegen Mittag haben die Chläuse alle Einzelgehöfte besucht und nähern sich dem Dorf. Jetzt sieht man die einzelnen Gruppen von Haus zu Haus ziehen, mittlerweile unter den Augen vieler Zu­schauer. Die feierliche Stimmung verwandelt sich immer mehr in ein Volksfest. Nun treffen auch die einzelnen Gruppen zusammen, die schönen Chläuse wetteifern mit den „Schö-Wüschten“ und den „Wüsten“. Die wüsten Chläuse sind wahrscheinlich die ur­sprünglichsten. Die Gesichter hinter Furcht einflößenden Masken verborgen, gleichen sie in ihren Umhängen aus Heu, Stroh, Reisig oder Ästen laufenden Bäumen und Büschen. Doch wenn sie ihre Glocken läuten und den Gesang anstimmen, geht von ihnen die gleiche Faszination aus. 

In den Kostümen der „Schö-Wüschten“ sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Doch alle bestehen aus Naturmaterialien, die Gesichter verbergen sie hinter Tannenzapfenmasken, die Um­hänge bestehen aus Moos, Flechten oder Rinde. Am Nachmittag verlagert sich das Geschehen immer mehr in die Gasthäuser, wo die „Schuppel“ mit den Gästen bis weit nach Mitternacht trinken und feiern und immer mal wieder ein „Zäuerli“ zum Besten geben.

Das 400 Jahre alte Brauchtumsmuseum in Urnäsch erzählt von Silvesterchläusen, dem Sennenleben, von Bauernmalerei und Streichmusik. Infos im Internet unter: www.museum-urnaesch.ch