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05.01.18 / Wie Menschen mit dem Verlust einer verlässlichen Orientierung umgehen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01-18 vom 05. Januar 2018

Wie Menschen mit dem Verlust einer verlässlichen Orientierung umgehen
Dirk Klose

Klagen über den Verlust traditioneller Normen und Werte sind eigentlich nicht neu. In den Nachkriegsjahren war das Buch „Verlust der Mitte“ von Hans Sedlmayr ein wahres Kultbuch, das ganz offensichtlich einen Nerv der Zeit getroffen hatte. In unseren Tagen, im Zeitalter der Globalisierung, werden radikale Veränderungen vieler wirtschaftlicher, politischer und sozialer Bereiche wegen des rasanten Tempos ganz unmittelbar empfunden. 

Ernst-Dieter Lantermann, emeritierter Sozialpsychologe an der Universität Kassel, sieht in der daraus resultierenden Verunsicherung einen Hauptgrund für die Radikalisierung der Gesellschaft bis hin zu Hass und Fanatismus. Die heutige Gesellschaft, schreibt er in dem Buch „Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus“, mute ihren Bürgern gravierende Unsicherheiten ihrer Lebensverhältnisse zu. Die Menschen würden ständig mit verstörenden Nachrichten über die Katastrophen in der Welt konfrontiert und litten unter dem Verlust verlässlicher Orientierung: „Immer mehr Menschen erfahren, dass ihr Leben zu einer prekären Gratwanderung zwischen Meistern und Absturz geworden ist und sehen sich in ihrem Selbstwertgefühl zutiefst verunsichert.“

Auf diese „Selbst-Erschütterungen“ reagieren die Menschen, so Lantermanns These, ganz gegensätzlich. Ein Teil von ihnen sehe die Auflösung traditioneller, fester Ordnungen und Prinzipien als Chance zu eigener Kreativität und Selbstverwirklichung. Der andere Teil hingegen reagiere mit Angst auf wirtschaftliche und soziale Veränderungen sowie mit einer zuweilen bis zum Hass gesteigerten Feindseligkeit gegenüber Fremden und Flüchtlingen. Lantermann sieht eine Radikalisierung in den westlichen Gesellschaften, die er fast durchweg auf dem „rechten“ politischen Spektrum ausmacht, verursacht durch die teils gespürte, teils tatsächlich eingetretene Entwurzelung aus traditionellen Milieus und Berufen. 

Schon vor diesem Buch hatte der Autor an einschlägigen Forschungen zu diesem Thema gearbeitet, seine Schlussfolgerungen zieht er aus viel statistischem Material. Leider belässt er es hier bei mehr oder weniger abstrakten Aussagen. Es fehlen  konkrete Beispiele, die der Darstellung gut getan hätten. Konkreter wird es aber im Mittelteil des Buches, in dem der Autor auf individuelle Formen der Selbstsicherung und Selbstvergewisserung eingeht. Solche Formen sieht er zum einen in den sogenannten „gates communities“, also den wachsenden, streng von der Außenwelt abgeschirmten Wohnsiedlungen wohlhabender Bürger, dann aber vor allem – und hier wird das Buch wirklich spannend – in der ständig wachsenden Fitnessbewegung und – „als extreme Form alltäglicher Sinnfindung“ – im Veganismus als extremste Form selbstbestimmten Lebens in unübersichtlich gewordener Zeit. Lantermann zieht unausgesprochen Parallelen zwischen dem Fanatismus auf politischer Ebene und dem Rigorismus von Veganern – ein etwas gewagtes Unterfangen, aber gemein ist ja beiden Richtungen in der Tat Intoleranz, Verachtung, ja, Hass gegenüber Andersdenkenden und -handelnden. 

Sein mitunter düsteres Bild relativiert der Autor gegen Ende selbst, indem er der Bundesrepublik eine alles in allem gefestigte Zivilgesellschaft bescheinigt, wofür ja erfreulicherweise auch viele Anzeichen sprechen. Aber sie zu erhalten, bleibe eine dauernde Aufgabe von Politik und Gesellschaft. Ein ungewöhnlich ausführliches, auf hohem Niveau gehaltenes Literaturverzeichnis erlaubt ein Weiterarbeiten zu allen hier teilweise nur angeschnittenen Fragen.

Ernst-Dieter Lantermann: „Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus“, Karl Blessing Verlag, München 2016, gebunden, 224 Seiten, 19,99 Euro