25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
19.01.18 / Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-18 vom 19. Januar 2018

Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

es ist nur ein gebundenes Heft, kaum 50 Seiten dünn, aber die haben es in sich. Denn sie enthalten die Selbstbiographie einer außergewöhnlichen Frau, die ihr Leben selber in die Hand nehmen musste, um für sich und ihre Mutter ein lebenswertes Dasein zu schaffen. Nicht hier in Deutschland, sondern in Kanada, wo die Auswanderungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem deutsche Männer erfasste. Dass aber eine junge Frau ohne berufliche Erfahrung, ohne Begleitung von Verwandten, ohne Betreuung durch eine Hilfsaktion und ohne finanzielles Polster allein den Sprung über den Großen Teich wagte, ist schon außergewöhnlich. Ruth Kaufmann aus Ontario hat es getan, und sich dort ein Leben so ganz nach ihren Vorstellungen aufgebaut, sodass die heute 95-Jährige voller Dankbarkeit auf die Jahre zurückblicken kann, die sie bisher in Kanada verbracht hat. Das macht das kleine Bändchen so liebenswert, weil man in diesem Rückblick auf ein erfülltes Leben die Ausgeglichenheit des Alters in jeder Zeile spürt. „Rück­blick“ hat Ruth Kaufmann deshalb ihre Selbstbiographie betitelt, die sie uns mit der Bitte übersandte, sie unseren Lesern vorzustellen. Denn sie, die in Schlesien Geborene, ist seit Jahrzehnten treue Leserin unserer Zeitung und mit der Ostpreußischen Familie vertraut. Und wenn sie auch jede Ausgabe im deutschen Freundeskreis weitergibt, achtet sie immer darauf, dass sie die Zeitung wieder zurückbekommt. Da ist es leicht, ihre Bitte zu einer Vorstellung ihrer Biografie in unserer Kolumne zu erfüllen.

Und doch auch schwer, denn Ruth Kaufmann bringt auf jeder Seite eine solche Fülle von Eindrücken, dass es Mühe macht, die Wesentlichsten herauszustellen. Da ist ihre Kindheit in Görlitz, die von Mutterliebe geprägt ist. Die Verbindung mit der lebensfrohen Mutter ist sehr eng und wird von Bewunderung für diese Frau getragen, die sich nach der Scheidung aus eigener Kraft einen Beruf aufbaute: Luise Kaufmann, Miederfabrikation und Vertrieb. Für die Frauen, vor allem in den Berufen, die körperliche Kraft benötigten, waren stützende Mieder wichtig. Das Unternehmen florierte, da die künstlerisch veranlagte Frau die in Maßarbeit angefertigten Korsetts mit schmückendem Zubehör versah. Sie war auch sehr musikalisch und wollte sich in Gesang ausbilden lassen, musste aber für sich und ihre Tochter das tägliche Brot verdienen, so tröstete sie sich mit ihrer Mitwirkung als Chorsängerin im Stadttheater Görlitz. Ihre Tochter Ruth wollte nach der Mittelschule gerne auf eine höhere Schule wechseln, aber die Lehrerin riet der Mutter ab, die Tochter würde doch bald heiraten. Ruth Kaufmann blieb ledig. Bis heute!

Der erste Arbeitsplatz war für Ruth die Dunkelkammer eines Fotogeschäftes, die Kamera wurde auch im späteren Leben ihr ständiger Begleiter. Aber dann begann der Zweite Weltkrieg, die Männer wurden eingezogen, und Frauen nahmen ihre Plätze ein. Erstmalig auch bei Banken, und so wurde auch Ruth bei der Commerzbank Lauban eingestellt. Aber nicht lange, denn nun begann auch für Ruth und ihre Mutter die Odyssee der Vertreibung, die sie nach langer Irrfahrt nach Unterfranken führte, wo sie in der Nähe von Hammelburg bei einem Schäfer eine kleine Stube bezogen. Hier fand Luise Kaufmann ein altes Spinnrad und begann zu spinnen, bald konnte sie wieder ihrem Metier nachgehen. Ruth bekam in Hammelburg eine Stelle beim Ernährungsamt. Aber das waren vorübergehende Tätigkeiten, die entbehrungsreiche Gegenwart ließ keine Erwartungen auf ein besseres Leben zu, die Zukunft blieb ungewiss. Und irgendwann kam da der Gedanke an eine Auswanderung auf. Seit 1950 konnten Anträge gestellt werden, aber nicht für Reichsdeutsche. Weil diese Zeit eine der wichtigsten Schaltstellen im Leben der Ruth Kaufmann ist, lasse ich sie erzählen:

„Da schaltete sich Kanada ein. Der Vergleich zwischen dem weiten Land mit wenig Besiedlung und dem kleinen Deutschland mit seinen Millionen von Vertriebenen war überwältigend. Die Auswanderung nach Kanada sollte eine Milderung der Zustände bringen, aber auch von Nutzen für das eigene Land sein. Es wurde ein Jahr in einer festen Tätigkeit vorgeschrieben, somit waren Arbeit und Unterkunft gesichert. Danach konnte nach eigenem Wunsch gehandelt werden. Wir überlegten und kamen zu dem Entschluss, dass es auch was für uns wäre. Wir erhielten die betreffenden Formulare von der kanadischen Behörde. In der nächsten Zeit beschäftigte ich mich mit der englischen Sprache, das würde die Verständigung erleichtern. Meine Mutter hatte sich mit ihrem Beruf einen festen Boden geschaffen, leider hatte ich nicht ihre künstlerische Ader geerbt. So blieb ich bei der Buchführung. Für mich standen die Aussichten auf einen Arbeitsplatz nicht so gut. Wir bereiteten uns auf die große Veränderung vor und merkten erst jetzt, wieviel wir in den acht Jahren hier in Unterfranken geschaffen hatten, was lebenswert war. Ein Tischler fertigte uns eine künstlerisch bemalte Schiffstruhe für die Überfahrt an.“ Die Ruth alleine antreten musste, denn ihre Mutter erfüllte nicht die vorgeschriebenen Bedingungen für ältere Auswanderer: Sie hatte gerade die 50 überschritten und hätte in Kanada einen Bürgen benötigt. Ruth nahm sich vor, nach einem Jahr diese Bürgschaft zu übernehmen, wenn sie die eigenen Reisekosten bezahlt hatte. Aber es war doch noch eine spürbare Ungewissheit vorhanden, ob man auch alles richtigmache. Da kam der Bescheid, dass Ruth am 8. Juni 1953 mit Gepäck und Papieren in Bremerhaven zur Registrierung erwartet würde. Die Würfel waren gefallen!

Luise Kaufmann begleitete ihre Tochter nach Bremerhaven und nahm am 11. Juni von ihr Abschied, als Ruth an Bord des ehemaligen Truppentransporters „Skaubryn“ ging. Ein letztes Winken, ein Lächeln, nein, keine Tränen, es war ja nur ein Abschied für kurze Zeit. Die Überfahrt erfolgte ohne Zwischenfälle für Ruth, die sich am liebsten an Deck aufhielt, denn die meisten Passagiere wurden seekrank, und so ging Ruth am 22. Juni in Quebec an Land, wo die Auswanderer ihre Papiere erhielten. Auf Rat der Bearbeiter entschied sich Ruth für Ottawa, Ontario, in dem sie noch heute lebt. Es wäre viel über diese erste Zeit in Kanada zu erzählen und Ruth hat es auch getan, aber sie berichtet nicht nur über ihre neuen Tätigkeiten und Erlebnisse in dieser waldreichen Provinz, sie spricht auch von Fehlschlägen und Überlegungen, wieder nach Deutschland zurück zu kehren, die ihre Mutter mit ihr teilte. Doch diese folgte dann ihrer Tochter schneller als erwartet, denn sie hatte für die Reise gespart, die Bürgschaft in Kanada übernahm Mrs. B., Lehrerin und Familienmutter, in deren Haushalt in Ottawa Ruth seit der Einwanderung arbeitete, um den Jahreskontrakt erfüllen zu können.

Schon am 30. November 1953 landete Luise Kaufmann in Mont­real, und so waren Mutter und Tochter wieder vereint, konnten aber nicht zusammen wohnen, bis die Mutter Arbeit und Unterkunft in einem College gefunden hatte. Dort bekam auch die Tochter eine Bleibe, als sie ihr „Pflichtjahr“ erfüllt hatte, und fand Arbeit als Hilfsschwester in dem College. Aber eine eigene Wohnung bekamen sie erst, als ein hilfsbereiter Heizer ihnen ein kleines Apartment neben seinem Kohlenkeller vermittelte. Das nächste Heim war auch nicht viel größer, hatte aber Tageslicht, Luise richtete es wohnlich ein. Ruth hatte inzwischen Arbeit bei der Bank of Nova Scotia gefunden, und so lief das Leben nun im ruhigen Fahrwasser, wie sie in ihrem Lebensbericht schreibt: „Wir waren zufrieden mit dem, was wir aus eigener Kraft geschaffen hatten, mit kleinen Einkommen und ohne Schuldscheine.“ In freien Stunden wurde die Stadt Ottawa erkundet, und da stießen sie auch auf Heimatlich-Vertrautes: Gottesdienste in deutscher Sprache, herzliche Aufnahme im Kreis der deutschen Gemeinde, eine Bibliothek mit deutscher Literatur und sogar altgewohnte Lebensmittel wie Schwarzbrot und Sauerkraut, die das Eingewöhnen leichter machten. Und das wurde noch verstärkt, als die Kaufmanns beschlossen, ein kleines Haus zu kaufen, hundert Jahre alt und mit Hypotheken belastet, aber es wurde zu ihrer eigenen kleinen Welt, in der Mutter und Tochter sich geborgen fühlten. Vor allem Luise, die aus dem alten Haus ein Schmuckstück machte, von Blumen und Büschen umrankt, innen mit den schönen Handarbeiten geschmückt. Es waren glückliche Zeiten – bis zum Spätherbst 1975. Luise, die Tatkräftige, Ideenreiche, immer Fröhliche, wirkte müde, in sich gekehrt und verstarb nach kurzem Klinikaufenthalt am 24. November, die schlimmste Zäsur im Leben der Tochter, die erst nach einem Jahr ihre Tätigkeit als Buchhalterin wieder aufnehmen konnte. Für sie wurde nun das kleine Haus noch stärker zu ihrem Lebensmittelpunkt, aber es war ein Altbau und wurde gegen ihren Willen abgerissen. Ruth ließ ein neues kleines Haus bauen, in dem sie noch heute lebt. Vor zwei Jahren schrieb die heute 95-Jährige ihre Erinnerungen auf und bringt sie in die Jetztzeit ein:

„Heute blicke ich zurück. 30 Jahre in Deutschland – 60 Jahre in Kanada. Nur ein winziger Punkt in den Millionen von Menschenschicksalen. Technik, Gesundheit, Kultur haben eine enorme Veränderung erfahren. Vieles ist leichter erreichbar. Für jeden einzelnen Menschen ist aber geblieben die Freude, die Liebe, der Schmerz, die Trauer. Das trägt man in sich, das lässt sich nicht teilen, aber man kann Anteil nehmen an den Freuden und Leiden anderer. Das gibt uns Zufriedenheit“.

Eure Ruth Geede