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26.01.18 / Zwischen Dirndl und Tscheka / Impressionen aus dem Stalingrad von heute – Deutsche Besucher willkommen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-18 vom 26. Januar 2018

Zwischen Dirndl und Tscheka
Impressionen aus dem Stalingrad von heute – Deutsche Besucher willkommen
Michael Foedrowitz

Vor 75 Jahren neigte sich die Schlacht um Stalingrad ihrem Ende zu. Noch heute sind die Spuren des Krieges in der wiederaufgebauten Stadt so allgegenwärtig wie die sorgsam gepflegte Erinnerung an damalige Geschehen.

Die Brezel war perfekt. Grobkörniges Salz darauf. Das Paulaner-Bier in einem Originalhumpen. Die Weißwürste im heißen Wasser und stilgerechter Terrine. Serviert von freundlichen Kellnerinnen im Dirndl. Hatte ich Bayern an der Wolga getroffen? Auch das Enterieur ist bayrisch ausgerichtet: rot-weiß karierte Tischdecken, an den Wänden Fotos von bayerischen Bierrössern, Bierkessel, Anzapfer, Münchner Kneipen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aber all dieses wurde nicht in Bayern beobachtet, sondern in einer Stadt, die Verdun als „Hauptstadt aller Schlachten“ abgelöst hat: in den Paulaner Bierstuben des Park Inn Hotels in Stalingrad, das seit 1961 Wolgograd heißt. Diese Stadt hat Gefallen an Bayern gefunden. Im Zentrum, in der Komsomolskaja Straße konnten weitere bayrische Restaurants ausfindig gemacht werden, die „Brezel“ und das „Bamberg“. In der Stadt hängen große Plakate von jungen Frauen im Dirndl mit zahlreichen Maß Bier in den Händen. Anscheinend wird die Lebensart im Süden Deutschlands als besonders attraktiv empfunden.

Die Stadt und ihre Bewohner – heute mehr als eine Million Menschen – hat ihre Vergangenheit in den Griff bekommen. Die Normalität im Straßenbild, das dem westlichen sehr ähnelt, beweist das. Ein fast mediterranes Flair. Wie war das möglich? Ein Weiterleben nach der Hölle 1942/1943? Eine Eisenbahningenieurin aus Moskau erzählt: Sie war als Flakartilleristin auf dem Schlachtfeld im Norden Stalingrads. Nach 1945 lebte sie in Moskau. Im September 1945 kam der Aufruf an die Kriegsteilnehmer, mit Uniform und Orden durch die Straßen der russischen Hauptstadt zu marschieren. Da sah sie Menschen, die sie freundlich anlächelten. Das gab ihr Kraft und neue Zuversicht.

Der Offizier und Kommandeur eines Panzervernichtungsbataillons, der aus dem Gebiet von Brjansk stammende heute 97-jährige Leiter der Stalingrader Veteranen, Wassili Semjonowitsch Turow, ist nach seiner Dienstzeit in der Armee nach Stalingrad gegangen. Seine ukrainische Ehefrau hatte die ersten Jahre nicht gemeinsam die Nächte im Schlafzimmer verbracht, weil Veteran Turow vom Krieg träumte und im Traum schrie. Erstaunlich, dass dieser ehemalige sowjetische Offizier schon in den 50er Jahren versuchte, seine traumatischen Kriegserlebnisse in dieser Stadt mit Yoga beizukommen.

Die letzten deutschen Soldaten im Stalingrader Nordkessel kapitulierten am 2. Februar 1943. Die Stadt war weitgehend zerstört, im Zentrum stand nur noch ein einziger Baum – heute das einzige lebende Denkmal in der Stadt, das an die Schlacht erinnert.

Man kann die Spuren des Krieges in der Stadt und in der Steppe zwischen Don und Wolgograd entdecken. Wenn im Frühjahr gepflügt wird, kann man auf den Luftbildern des Gebietes überall weiße Punkte sehen. Das sind die Schädel und Knochen von Menschen und Pferden. Geht man durch die Steppe bei Pitomnik, wo einst der wichtigste Flugplatz im Kessel war, kann man alles finden: Granaten, Geschützrohre, Patronen, Stahlhelme, Pferdeknochen, Knöpfe von Uniformen und Wehrmachtsunterwäsche, Nivea-Dosen. Da bleibt es auch nicht aus, dass mit den Fundstücken und Relikten des Krieges gehandelt wird und die Geschäfte blühen - bereits seit den 60er Jahren.

Mikhail Shuvarikov kennt die Stadt, die Umgebung und die Geschichte sehr gut. Er betreibt ein kleines Unternehmen, die „Stalingrad Battlefield Tours“, führt Veteranen, Interessierte und Touristen über die Schlachtfelder des Stalingrader Kessels. Er zeigt die Orte und Plätze dieser erbarmungslosen Schlacht wie das berühmte Getreide-Silo, die Traktorenfabrik Dzierzynski, den Hauptbahnhof mit dem Brunnen der tanzenden Kinder, den Rest des ehemaligen Kaufhauses Univermag, wo Generalfeldmarschall Friedrich Pauls die letzten Tage des Januar 1943 bis zu seiner Gefangenennahme sein Hauptquartier hatte – angeblich war der Gang, wo heute ein Kriegsmuseum Exponate ausstellt, hüfthoch mit Kot gefüllt, da die Soldaten wegen der Scharfschützengefahr nicht „vor die Tür“ gehen konnten und auch keine Toilette zur Verfügung stand. Mikhails Büro ist in einem ehemaligen Luftschutzkeller eines Wohnhauses im Stadtzentrum.

Nachdem die Soldaten der 6. Armee in die Gefangenschaft gewankt waren, musste sofort die Leichenbergung in der Stadt beginnen. In Straßen und Kellern lagen 16000 Pferdekadaver und 150000 Leichen. In einigen Fällen gingen sowjetische Pioniere mit Flammenwerfern durch die Kellerräume. Das Frühjahr stand bevor, Seuchen bedrohten die übrig geblieben Bewohnen der Ruinenwüste. Wenn der festgefrorene Boden nicht aufzugraben war, wurden die Leichen aufgestapelt, zu 200, zu 300, zu 600, mit Benzin übergossen und verbrannt. Die Stapel brannten wochenlang. Es wurden Bauern mit ihren Panjewagen einbestellt. Jeder Mann hatte pro Tag 25 bis 30 Leichen zu bergen, jede Frau 20 bis 25. 3500 Stalingrader und 1200 deutsche Kriegsgefangenen wurden für das Einsammeln der Leichen aufgeboten. Viele dieser Toten wurden in einem bereits 1942 ausgehobenen Panzergraben beerdigt. Bis heute werden bei Bauarbeiten Massengräber freigelegt.

Im ersten Monat sind in den Kriegsgefangenenlagern in Beketowka 42000 deutsche Kriegsgefangene verstorben. Sie wurden in Massengräbern beigesetzt oder in großen Scheiterhaufen verbannt.

Dann mußte die Ruinenwüste von Munition gesäubert werden. Allein auf der schwer umkämpften Höhe 102, dem berühmten Mamajew Kurgan, wurden 40000 Blindgänger, Bomben und Granaten, entschärft. Die Minenräumung war aufwendig und mußte bis zum Sommer 1943 intensiv weitergeführt werden. Die Räumung wurde von Frauen, Halbwüchsigen und Kriegsgefangenen durchgeführt. Westlich Stalingrads in der Steppe wurde noch bis weit in die 70er Jahre die Minenräumung durchgeführt.

Dann mußten die Straßen geräumt werden. Abgeschossene Panzer, zerbeulte Lastkraftwagen und Zugmaschinen, Pkw aller Fabrikate wurden abgeschleppt und zumeist im Stahlwerk „Roter Oktober“ eingeschmolzen. Allein auf der Don-Höhenstraße standen über 1000 abgeschossene Sowjetpanzer. So konnte der „Rote Oktober“ bis Mitte der 50er Jahre neuen Stahl liefern.

Dann wurden die Bahnhöfe aufgeräumt, der Stalingrader Bahnhof war im März 1943 wieder in Betrieb und schon am 11. April 1943 konnte der Zugverkehr Mos­kau–Stalingrad wieder aufgenommen werden. Das war insofern von Bedeutung, als im großen Maßstab Baustoffe in die Stadt sowie schweres Baugerät hineingebracht werden konnten. Dann kamen auch sowjetische Architekten und Bauarbeiter in die Stadt. Die Leistungen waren beein­druckend. Im Zentrum war bereits 1954 alles wieder aufgebaut: großzügige Wohnblöcke mit sehr vielen Parks und Gärten.

Der Wiederaufbau wurde sofort nach Beendigung der Kämpfe begonnen. Der britische Premierminister Winston Churchill hatte Stalin vorgeschlagen, die Ruinenstadt als Freilichtmuseum stehen zu lassen. Stalin daraufhin: „Das könnte ihm so passen!“ Der Abriß der Ruinen folgte, es hatten in Stalingrad nur knapp 15 Häuser unbeschädigt den Krieg überstanden, meist leicht erkennbar als „Stalingrad Barock“ in roter Back­steinausführung. 91 Prozent der Gebäude der Stadt waren zerstört worden. 8000 Bewohner Stalingrads hatten in der Trümmerwüste der Stadt überlebt. Sie begannen nun mit der Räumung von Schutt, füllten Bombentrichter und zahlreiche Balkas in der Stadt verschwanden, um damit den Bau einer neuen Infrastruktur zu erleichtern. Deutsche Kriegsgefangene waren maßgeblich am Aufbau der Häuser und Straßen beteiligt. Die von den Deutschen gebauten Häuser wurden scherzhaft als die „Häuser für die Ewigkeit“ bezeichnet, eine versteckte Wertschätzung der Qualität deutscher Arbeit.

Das Gedenken kam erst später. Das erste Denkmal war dem NKWD gewidmet, es wurde am 28. Dezember 1947 eingeweiht. Die sowjetische Geheimpolizei hatte eine Division aufgestellt, die an den schweren Kämpfen in der Stadt beteiligt gewesen war. „Groß ist die Erinnerung, die Orten innewohnt“, das hat schon Cicero gesagt. Und Wolgograd, das sich für einige Tage im Jahr auch „Heldenstadt Stalingrad“ nennen darf, hat da einiges zu bieten. Bis zum Jahre 2007 wurden 28 Massen- und drei Einzelgrabanlagen eingerichtet, 266 Gedenktafeln aufgehängt, 20 Gedenkstätten, 22 Obelisken, neun Skulpturen, 14 Heldenbüsten, 32 Panzer vom Typ T-34, drei Ruinengedenkplätze, ein Mahnmal für Zivilopfer sowie eine Heldenallee eingerichtet. Stalingrad ist, wenn man alle Denkmäler im Oblast Wolgograd dazu zählt, also auch das Ostufer der Wolga die „Stadt der 1000 Denkmäler und Gedenkorte“. Selbst den Minenhunden ist ein Denkmal gewidmet. Ein Denkmal, das die gesamte Stadt durchzieht, ist die mit Marmorsockeln und darauf gesetzten T-34-Panzertürmen ausgestattete Frontlinie der 62. Armee von General Tschuikow, die bis auf das Letzte die Stadt verteidigt hatte. Mittlerweile kennzeichnen diese Frontlinie 19 Panzertürme. Tschuikow selbst sind mehrere Denkmäler und Statuen gewidmet, an der Wolga, in dem westlichen Vorort Gorodischtsche. Nach ihm sind Straßen benannt worden, sein Grab ist auf dem Mamajew Kurgan, und eine Großplastik aus Beton auf dem Weg zur „Mutter Heimat“ trägt seine Gesichtszüge. Auch der berühmte Scharfschütze Wassili Zaizew, der nach dem Kriege in Kiew eine Nähmaschinenfabrik leitete, ließ sich auf dem Mamajew Kurgan begraben.

Beherrschend in der Erinnerungskultur der Stadt, ja ganz Russlands, ist die Großplastik „Mutter Heimat ruft“, die auf dem nach 1945 erhöhten Mamajew Kurgan steht, eigentlich ein Grabhügel des tartarischen Heerführers Mamajew. Das mag nicht jedermanns Sache sein, aber die Russen, die Stadtbevölkerung Wolgograds haben diesen Ort als Gedenkstätte angenommen. Die 8000 Tonnen schwere „Mutter Heimat“ ist wirklich groß. Das Projekt des Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch begann in den 50er Jahren und die Großplastik wurde am 15. Oktober 1967 eingeweiht. Sie ist 85 Meter hoch, allein das Schwert misst 33 Meter und wiegt 14 Tonnen.

Die Anlage bedeckt den gesamt östlichen Hügel mit Bassins („Seen der Tränen“), Skulpturen wie der Pieta, Einzel- und Massengräber sowie der Halle des militärischen Ruhmes mit der ewigen Flamme auf einer Fackel, gehalten von einem Arm, der aus der Erde herausragt. Die Monumentaltität des Gedenkortes kann vermuten lassen, dass hier nicht des einzelnen Soldaten gedacht wird, sondern dass es sich hier um eine Legitimation der Sowjetmacht handelt. Man kann die „Mutter Heimat“ von innen betreten, kann manchmal die Köpfe des Wartungspersonals im geöffneten Mund sehen.

Stalin selbst kommt in der Stadt, die einmal seinen Namen trug nicht mehr vor. Sehen kann man Statuen von Lenin, nach ihm sind auch eine der Hauptstraßen und ein großer Platz benannt.

Eine deutsche zentrale Gedenkstätte gibt es auch, aber über 30 Kilometer von der Stadt entfernt inmitten der Steppe bei Rossoschka. Der in Russland umstrittene Gedenkort wurde am 15. Mai 1999 eingeweiht, er war nur möglich geworden, weil der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge dort auch einen Friedhof für jetzt 30000 sowjetische Soldaten finanziert. Die Toten von 200 bisher lokalisierten Grabstellen wurden nach Rossoschka umgebettet. Viele Gräber waren allerdings schon geplündert worden und beispielsweise Zahngold aus Schädeln gebrochen. In Rossoschka sind jetzt etwa 187000 deutsche Soldaten begraben, die Namen der Vermissten auf 143 Betonwürfeln verewigt.

Die heutige Gedenkkultur wirkt entspannter, findet auch ihren Niederschlag in inszenierten „Reenactments“, bei denen Episoden der Schlacht um Stalingrad nachgestellt werden. Mikhail Shuvarikov hat diese Ereignisse mit der Kamera festgehalten, wird auch als Konsultant geschätzt. Auch wenn die Erinnerung an die Schlacht verblasst, achtet man auf Respekt und Anstand. Als ein ägyptischer Student in die Ewige Flamme des Denkmals für Bürgerkrieg und Zweiten Weltkrieg urinierte wurde er festgenommen, verprügelt, zu eineinhalb Jahren Lager verurteilt und dann ausgewiesen.