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02.02.18 / Das Ende des »heldenhaften Ausharrens« / Der Untergang der 6. Armee in der Schlacht von Stalingrad markierte vor 75 Jahren die Wende im Russlandfeldzug

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-18 vom 02. Februar 2018

Das Ende des »heldenhaften Ausharrens«
Der Untergang der 6. Armee in der Schlacht von Stalingrad markierte vor 75 Jahren die Wende im Russlandfeldzug
Jan Heitmann

„Der Mann hat sich totzuschießen!“ Adolf Hitler ist außer sich vor Zorn. Es ist der 1. Februar 1943. Mittagslage im Hauptquartier „Wolfsschanze“. Soeben hat der „Führer“ erfahren, dass der Oberbefehlshaber der 6. Armee, der frisch beförderte Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, am Vortag mit den Resten seiner geschlagenen Streitmacht kapituliert hatte. 

Am 10. August 1942 hatten die deutschen Vorausabteilungen die Außenbezirke der Wolgametropole erreicht, eine Woche später gab Generaloberst Paulus der 6. Armee den Befehl zum Angriff. Die Wolga wurde schnell erreicht, woraufhin das sowjetische Oberkommando den Belagerungszustand verkündete. In der Mitte der Front konnten die Deutschen noch den Durchbruch erzielen, doch dann nahmen die letzten russischen Reserven dem Angriff den Schwung. Der deutsche Vorstoß war gescheitert. Am 4. Oktober ließ Paulus einen weiteren Angriff durchführen, um Stalingrad völlig in Besitz zu nehmen und die Rote Armee vom rechten Wolgaufer zu vertreiben. Doch der Widerstand der 62. Armee General Wassilij Tschuikows in den Straßen und Häuserschluchten war erbittert. Ein weiträumiges Operieren war nicht mehr möglich, und die 6. Armee löste sich in kleine Kampfgemeinschaften auf Stoßtruppebene auf, die im Orts- und Häuserkampf verschlissen wurden. Eng mit dem Feind in der Ruinenlandschaft verzahnt, musste jeder Handbreit Boden teuer erkauft werden. Dennoch waren Ende Oktober neun Zehntel der Stadt in deutscher Hand. 

Doch die fast vollständige Einnahme Stalingrads blieb ein Erfolg auf Zeit, denn die deutschen Divisionen waren ausgeblutet. Die Nachschublinien waren überdehnt, und Hermann Göring konnte sein vollmundig abgegebenes Versprechen, Stalingrad aus der Luft zu versorgen, nicht in die Tat umsetzen. Dem Grundsatz, „die Logistik bestimmt den operativen Handlungsspielraum“ folgend, begann sich die Katastrophe bereits in dieser Lage abzuzeichnen. Die Sowjets dagegen konnten ihre Verluste ausgleichen und kampfstarke Reserven heranführen. Der deutschen Heeresgruppe B unter Generaloberst Maximilian von Weichs mit der 6. Armee im Zentrum standen schließlich drei feindliche Heeresgruppen ge­gen­über. Alles deutete auf einen massiven russischen Gegenschlag hin. 

Am 19. November begann die Rote Armee mit einem gewaltigen Feuerschlag aus 3500 Rohren ihre Großoffensive. Nordwestlich und südlich von Stalingrad durchbrach sie die Linien an den fast offenen gegnerischen Flanken, die nur von zwei schwachen rumänischen Armeen gehalten wurden. Wenige Tage später erfolgte im Raum Kalatsch die Vereinigung der sowjetischen Heeresgruppen. Die 6. Armee und die ihr unterstellten Kräfte der verbündeten Rumänen und Italiener waren eingeschlossen. 

Paulus plante, seine Truppe noch vor der Vollendung der Einschließung auf die Ausgangsstellung vom Sommer zurückzuführen – noch verfügte er über 100 Panzer, 1800 Geschütze und 10000 Kraftfahrzeuge –, doch Hitler, der seiner Maxime treu blieb, keinen Handbreit Boden aufzugeben, befahl, Stalingrad zu halten. Außerdem sagte er Entsatz zu und versprach, die eingeschlossenen Truppen aus der Luft zu versorgen. Vom Oberkommando des Heeres über die Heeresgruppe und das Oberkommando der 6. Armee bis herab zu den Armeekorps legte die Lagebeurteilung einhellig einen Ausbruch aus dem Kessel und damit die Aufgabe Stalingrads zwingend nahe. Hitler aber, der nie gelernt hatte, in operativen Kategorien zu denken, hielt an der Vorstellung vom unbedingten Halten eines einmal genommenen Raumes fest. Er erkannte nicht, dass Raum nur eine operative Größe ist und dass der Gegner nur mit Kräften geschlagen werden kann. Diese drohten aber jetzt in Stalingrad sinnlos geopfert zu werden. Paulus jedoch beugte sich dem Befehl und hoffte auf Entsatz. 

In dieser kritischen Lage übernahm Generalfeldmarschall Erich von Manstein den Oberbefehl über die neu gebildete Heeresgruppe Don. Am 12. Dezember führte er seine Truppen aus dem Raum Kotelnikowo zu einem Entsatzangriff auf Stalingrad, in dessen Verlauf die Panzer der 4. Panzerarmee des Generaloberst Hermann Hoth bis auf 48 Kilometer an die Stadt herankamen, bis sie unter starkem Feinddruck zurück­gehen mussten. Die Versorgung aus der Luft gelang nicht. Die eingeschlossene Armee erhielt kaum noch Nachschub, die Verlus­te durch Unterernährung und Erfrieren nahmen dramatisch zu. Hitler aber weigerte sich auch jetzt, einem bereits vorbereiteten Gesamtausbruch der 6. Armee als letzte Möglichkeit zur Rettung der Truppe zuzustimmen. Doch Paulus fand in aussichtsloser Lage nicht die Kraft zum Ungehorsam und harrte in der belagerten Stadt aus. 

Am 9. Januar 1942 boten die russischen Befehlshaber Paulus die ehrenvolle Kapitulation an, die von diesem abgelehnt wurde, da seine Armee noch immer mehrere feindliche Armeen band und so den bedrohten Südflügel der Ostfront stabilisierte. Daraufhin begann am nächsten Tag mit der Zerschlagung des Kessels der letzte Akt der Tragödie. Von nun an war die 6. Armee in zwei Teile gespalten. Wie schon fünf Monate zuvor, so wurde die Innenstadt wieder zum Gefechtsfeld, nur dass diesmal die Deutschen in den Ruinen saßen und die Russen von außen eindrangen. Paulus, nunmehr Befehlshaber im Südkessel, richtete seinen Gefechtsstand im Keller des Kaufhauses Univermag ein und rüstete sich zum letzten Kampf. Am 30. Januar befahl Hitler noch einmal „heldenhaftes Ausharren“ und beförderte ihn zum Generalfeldmarschall, in der Hoffnung, dass sich ein Feldmarschall niemals ergeben würde. Doch Paulus hatte erkannt, dass seine Armee endgültig am Ende war. Am nächsten Morgen befahl er seine Offiziere zu sich und forderte die Kommandeure auf, die Waffen niederzulegen. Da standen die feindlichen Stoßtrupps schon buchstäblich vor der Tür zu seinem Gefechtsstand. Zwei Tage später kapitulierte auch der kleinere Nordkessel unter dem Kommando von Generaloberst Karl Strecker. Der Kampf um Stalingrad war zu Ende. 

„Der Tag war da mit eisigen Wolganebeln, die durch Steingerippe und durch kilometerlange fensterlose Straßen brausen.“ So beschreibt Theodor Plievier in seinem berühmten Stalingrad-Roman den Tag, an dem Paulus seinen unterirdischen Gefechtsstand verließ, um mit fast 100000 Mann den schweren Weg in die Gefangenschaft anzutreten. Seine Armee hatte ihren Auftrag, starke sowjetische Kräfte zu binden und dadurch der Roten Armee den Durchbruch zum Schwarzen Meer zu verwehren, erfüllt. Bis zuletzt hatte sie mit nur 22 Divisionen sieben feindliche Armeen mit 147 Großverbänden gebunden – eine glänzende militärische Leistung. 

Doch der Preis war hoch: Von den ursprünglich 250000 Mann konnten 42000 Verwundete, Schwerkranke und sogenanntes Schlüsselpersonal ausgeflogen werden. Seit Beginn der sowjetischen Großoffensive waren zunächst mehr als 16000 Mann in Gefangenschaft geraten. Weitere 91000 gaben sich nach der Kapitulation gefangen, unter ihnen 24 Generale. Der Rest blieb auf dem Schlachtfeld, gefallen oder schweren Verwundungen, Krankheiten, Erfrierungen oder dem quälenden Hunger erlegen. Die Tragödie von Stalingrad war nicht der militärische Wendepunkt des Krieges, sie markiert aber den Zeitpunkt der psychologisch-politischen Wende. 

Das militärische Geschehen um Stalingrad verdient es nicht nur wegen der Bedeutung des historischen Ereignisses, in das Gedächtnis der heutigen Generation gerufen zu werden. Aus ihm können auch Lehren für die Gegenwart gezogen werden. Eine der wichtigsten ist die, dass es eine sittliche Verantwortung gibt, die mit der Verfügung über militärische Machtmittel untrennbar verbunden ist. Sie umfasst das Bewusstsein über die Auswirkungen des eigenen Handelns, die Fürsorge für die unterstellten Kräfte, die Beherrschung des militärischen Instrumentariums und den angemessenen Einsatz zerstörerischer Mittel. Ohne das unverzichtbare Prinzip des militärischen Gehorsams in Frage zu stellen, entbindet diese Forderung den militärischen Führer nicht davon, eigene Maßstäbe zu setzen, die Bedingtheit des eigenen Handelns in einem ständigen Anpassungsprozess zu erkennen und die eigene Entschlussfassung auch einer außergewöhnlichen Lage anzupassen, um militärischen Aufwand und Nutzen in ein vertretbares Verhältnis zu setzen. 

Paulus hat sich für bedingungslosen Gehorsam entschieden und sich schließlich mit einer Ergebenheitsadresse an seinen Führer in die Gefangenschaft abgemeldet. Hitler hat aus ideologischer Verblendung Zehntausende sinnlos geopfert. Ihr Schicksal war ihm gleichgültig. Schlimmer noch: Als die 6. Armee unterging, war der Oberste Befehlshaber der Wehrmacht bereits dieser Welt entrückt. Statt auf seine Generale zu hören und die Soldaten in Stalingrad vor der Vernichtung in der Eiswüste zu bewahren, beschwor der „größte Feldherr aller Zeiten“ von eigenen Gnaden die Helden der Antike. So wie einst der Spartanerkönig Leonidas mit nur noch 300 Kriegern den Thermopylen-Pass gegen die übermächtigen Perser bis zur vollständigen eigenen physischen Vernichtung verteidigt hatte, so sollte auch Paulus mit seiner geschlagenen Armee bis zum letzten Mann kämpfen. So, wie es auf dem Thermopylendenkmal steht und wie es Schiller in seinem Gedicht „Der Spaziergang“ beschreibt: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.“ Aus Stalingrad sind 6000 zurückgekehrt. Für sie liegen die Thermopylen an der Wolga.





Verarbeitung in der Literatur

Kaum eine Schlacht des Zweiten Weltkrieges ist literarisch so gut dokumentiert wie jene von Stalingrad. So schrieb der Königsberger Autor Heinrich Gerlach noch in sowjetischer Kriegsgefangenschaft seine Erlebnisse in einem Roman nieder, der nach der Beendigung von den Sowjets beschlagnahmt wurde. Da Gerlach nach der Kriegsheimkehr das Manuskript für verloren glaubte, rekonstruierte er den Roman zum Teil unter Hypnose und veröffentlichte die Zweitfassung 1957 unter dem Titel „Die verratene Armee“. Erst 2012, lange nach Gerlachs Tod, entdeckte ein Germanist das beschlagnahmte Originalmanuskript in einem Mos­kauer Archiv und gab es 2016 unter dem Titel „Durchbruch bei Stalingrad“ heraus (die PAZ berichtete).

Mit „Hunde, wollt ihr ewig leben“ schrieb der Österreicher Fritz Wöss 1957 eine äußerst erfolgreiche Romanversion der Schlacht, die schon zwei Jahre später vom ostpreußischen Regisseur Frank Wisbar verfilmt wurde. Von russischer Seite kamen mit den auch auf Deutsch übersetzten Romanen „Wende an der Wolga“ von Wassili Grossman und „Stalingrad“ von Viktor Nekrassow zwei sehr populäre propagandistische Beiträge zum „Großen Vaterländischen Krieg“.

Den bekanntesten Roman aber  schuf ein Deutscher, der gar nicht an der Schlacht teilgenommen hatte. Nach der Teilnahme an einem Schriftstellerkongress in Moskau blieb Theodor Plievier in der Sowjetunion und verbrachte die Kriegszeit in Taschkent, wo er für die Russen Briefe deutscher Soldaten auswertete. Nach der Schlacht von Stalingrad hatte er die Gelegenheit, deutsche Kriegsgefangene – so auch Fritz Wöss – in der Nähe von Moskau nach ihren Erlebnissen zu befragen. Daraus schuf er mit „Stalingrad“ einen mit neutraler Erzählerstimme und in moderner filmischer Montagetechnik konzipierten Roman ohne einen individuellen Helden, ohne propagandistische Aussage und ganz aus Sicht der deutschen Soldaten. Das Werk, dessen erste Teile schon im September 1943 in einer Moskauer Exilzeitschrift erschienen waren, sollte als dokumentarischer Antikriegsroman für sich sprechen.H. Tews