Welche Koalition auch immer: Das Gezerre um eine neue Regierung serviert den Deutschen ein paar wertvolle Erfahrungen.
Die Deutschen sind ein folgsames Volk, das seiner Herrschaftselite für gewöhnlich wenig Ärger macht. Da sie nichts so sehr fürchten wie das Chaos, ist den Deutschen jede Regierung, selbst die miserabelste, lieber als die Aussicht auf kopfloses Durcheinander.
Diese Haltung verleiht unserem Land eine oft bewunderte Stabilität, die in der prekären Mittellage Deutschlands schwerer zu halten ist als in Randnationen wie Frankreich oder Großbritannien. Diese Folgsamkeit der Deutschen lädt aber auch zum Missbrauch ein. Denn mit der Furcht vor dem Chaos lässt sich das Volk disziplinieren. Somit ist sie alles andere als hilfreich bei der Entwicklung von demokratischem Selbstbewusstsein gegenüber den Mächtigen.
So gesehen machen die Deutschen gegenwärtig ein paar wertvolle Erfahrungen: Das Land ist nicht im Durcheinander versunken, obwohl es die politische Klasse über fast ein halbes Jahr hinweg nicht geschafft hat, eine reguläre Regierung zu bilden. 2015 konnten sie obendrein erleben, dass Regierungen keineswegs immer für Ordnung und Sicherheit stehen, sondern auch Chaos stiften können. Ohne handlungsfähige Regierung hätten in jenem Sommer automatisch die Gesetze und Verträge gegriffen, die der millionenfachen illegalen Einreise einen Riegel vorgeschoben hätten. Es musste erst die Merkel-Regierung kommen, um diesen Riegel zur Seite zu schieben – mit fatalen Folgen.
Dieser Tage nun müssen die Deutschen beobachten, wie sich eine verbrauchte Politiker-Truppe noch einmal zur Macht quält, der es augenscheinlich nur noch um ihr persönliches Fortkommen geht, das Wohl von Volk und Land hin oder her. Ein wenig erhebender Anblick, aber womöglich ein lehrreicher.
Er könnte den Deutschen Anlass geben, ihr treuherziges, manchmal beinahe blindes Vertrauen in ihre politische Elite über Bord zu werfen. Dass bei der jüngsten Umfrage des Insa-Instituts SPD und AfD mit 17 zu 15 Prozent nur noch zwei Punkte auseinanderlagen, stellt bloß ein Indiz dafür dar, wie sehr dieses – allzu oft unbegründete – Vertrauen bereits gelitten hat. Auch bei den Unterstützern der etablierten Parteien breitet sich längst Misstrauen aus, die Anhänglichkeit zur „eigenen“ Partei lockert sich.
Diese Groko wäre ein schales Bündnis der letzten Meter einer abgelebten politischen Klasse. Wenn es scheitert, wird dies nicht allein das Ende einer bestimmten Parteien-Koalition bedeuten. In der Luft liegt eine weit tiefergreifende Veränderung der politischen Landschaft und des Denkens. 1990 blieb vielen Deutschen, vor allem im Osten der Republik, als Jahr des Anschlusses der DDR in Erinnerung, während die alte Bundesrepublik einfach weitermachte. Womöglich geht diese Epoche des „einfach Weitermachens“ gerade auf ihr Ende zu.