Im chinesischen Shanghai ist es Forschern gelungen, zwei Affen zu klonen. Seit vor 22 Jahren das Klon-Schaf Dolly Schlagzeilen gemacht hat, ist die Technik, wonach derlei abläuft, bekannt: Einem weiblichen Tier, sei es nun Schaf oder Affe, wird eine Eizelle entnommen und dieser wiederum der Zellkern mit dem Erbgut. Ersetzt wird dieser Zellkern durch denjenigen eines Spenders, Affe oder Schaf oder sonst ein Tier, je nachdem. Die geimpfte Eizelle wird einer Leihmutter übertragen, und im weiteren Verlauf sorgt die Natur fürs Gelingen, vielleicht.
Technisch gesehen scheint der Vorgang also keine Probleme mehr zu bereiten. Zwar waren für den Durchbruch viele Versuche nötig, die eine hohe Zahl an Ausfällen mit sich brachten, aber das wird Chinas Forscher nicht hindern, ihre Methode zur Serienreife zu entwickeln.
Aber es gibt natürlich diejenigen, die nach der ethischen Seite des Experiments fragen. Die Rücksichten reichen einerseits vom Problem des Wohlbefindens der Tiere bis hin zu der Vorstellung, man werde ein Experiment dieser Art eines Tages am Menschen vollziehen.
Es ist sicher kein Wunder, dass die Affen-Reproduktion in China geschehen ist und nicht etwa in Europa. Denn was die ethischen Einwände angeht, so sind die Verhältnisse in Europa und in China völlig unterschiedlich. Um es grob zu skizzieren: In Europa neigt man, was das Klonen von Menschen angeht, eher zu Skrupeln, in China fühlt man sich von derartigen Bedenken weitgehend frei. Um diese Erscheinung zu beleuchten, ist es zweckmäßig, sich eine andere Episode ins Gedächtnis zurückzurufen, die nur scheinbar völlig anders geartet ist als die Sache mit den Klon-Affen.
Im Jahre 1989 kam es in der chinesischen Hauptstadt Peking zu einer Studentenrevolte, bei deren Niederschlagung wohl an die 5000 Menschen ums Leben kamen. Bekannt wurden Aufruhr und blutiges Ende als das „Massaker am Platz des Himmlischen Friedens“, allerdings nur im Westen, in China wird vom „Zwischenfall am 4. Juni“. gesprochen. Aufschlussreicher allerdings ist einer der wenigen offiziellen Kommentare zu den Vorwürfen, denen sich China noch einige Zeit ausgesetzt sah. Sinngemäß sagte der Funktionär, auch wenn es soundsoviele tausend Tote gegeben haben möge, so habe man doch in China seit 20 oder mehr Jahren keine Hungersnot mit entsprechend Hunderttausenden von Toten gehabt.
Eine andere Rechtfertigung der Niederschlagung passt genau zu diesem Gedankengang: Man habe die „Stabilität des Landes“ schützen müssen, ebenjene Stabilität, die es der Regierung erlaube, erfolgreich Hungersnöte zu bekämpfen. Das Ganze erscheint nicht als ethisches Problem, sondern als ein Rechenexempel: Die kommunistische Diktatur führt zu stabilen Verhältnissen, die das Bevölkerungswachstum fördert. 5000 Opfer, die nach Freiheit gerufen hatten, stellen demgegenüber nur eine zu vernachlässigende Größe dar.
Der Mensch als mathematisches Eintel. Diese Denkweise ist nicht den Chinesen vorbehalten. Als Franz Josef Strauß im Jahr 1986 in Damaskus Hafiz al-Assad, den Vater von Baschar Hafiz al-Assad, besuchte, warb er für den Frieden Syriens mit Israel auch mit dem Hinweis auf die vielen toten Syrer, die der Konflikt kostete. Assad darauf: „Aber Exzellenz – Allah schenkt uns eine Nacht der Freude und wir haben wieder tausend neue Kämpfer.“ Auch hier dieselbe Erscheinung: Der Mensch zählt nach Funktion und Zahl, nicht nach seinem Wesen.
In naturnahen Kulturen war es bis vor wenigen Jahrzehnten üblich, Alte und unheilbar Kranke auszustoßen, so wie Eskimos, die eine Last für die Sippe darstellten und so zur Gefahr für alle wurden. Sie hat man auf einer Eisscholle ausgesetzt. Auch in Afrika wurden solche Mitglieder der Gemeinschaft aus ihr ausgestoßen, weil die Strenge der Natur es nicht erlaubte, allzu schwache Mitglieder durchzuschleppen.
Dahinter stand die Notwendigkeit, die Gemeinschaft zu erhalten, und die Überzeugung, dass sie absoluten Vorrang habe vor dem Schicksal eines einzelnen. Was aussieht wie Brutalität gegen einen einzelnen Menschen, ist begründet in der Sorge um alle. Erst die technisch-wirtschaftliche Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts hat dazu geführt, dass solche Maßnahmen wie das Aussetzen unterbleiben konnten.
Jene Entwicklung aber, welche die Welt verändert hat, ging ganz ausschließlich von den westlichen Ländern aus, in denen so harte Bräuche wie die beschriebenen auf den größten Abscheu stoßen. Es ist denn auch die entscheidende geistige Leistung Europas – des Europa, das als kulturelles Gebilde mit der EU so arg wenig zu tun hat –, dem einzelnen Menschen Recht und Wert und Würde zuzubilligen. Der Einzelne als Träger des Rechts – dieser Gedanke ist es, der Europa von den anderen großen Kulturen dieser Welt unterscheidet. Es ist das Menschenbild, nichts anderes. An ihm orientiert sich gleichermaßen das Bild von der Welt und wie sie zu ordnen sei.
Die Bereitschaft aber, überhaupt nur das Bestehen anderer als der eigenen ethischen Kategorien anzuerkennen, ist nicht weit verbreitet, die Fähigkeit sich in solch andere Kategorien hineinzudenken, noch viel weniger. Daher dominiert weitum und ziemlich unangefochten die Überzeugung, es gebe so etwas wie ein Weltethos, also sittliche Grundsätze, die überall gelten. Beliebt ist diese Auffassung auch, weil sie als ideologische Grundlage für die Eine-Welt-Gleichschaltung dienen kann. Als Beleg für die Behauptung, es gebe ein universelles Weltethos, das westliche nämlich, wird gerne die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen aufgeführt – dort habe man sich doch auf die allgemein gültigen sittlichen Grundlagen der Menschheit geeinigt, nicht wahr?
Ja, wenn es denn so einfach wäre. Bei der Menschenrechtskonvention ist es wie bei anderen Bekundungen durch Länder meist der Dritten Welt, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) oder der Weltbank oder eben den UN verlangt werden. Die Bekenntnisse werden geleistet, sooft das gewünscht wird, solange man sich nicht daran halten muss. Das gilt für so gut wie alle Länder, die von Zuwendungen aus internationalen Einrichtungen oder der Entwicklungshilfe westlicher Länder leben. Sie können es sich gar nicht leisten, hier einen argumentativen Widerstand zu leisten und bekennen sich beispielsweise zur Demokratie, und wenn diese auch ihrer Tradition noch so ferne liegt.
Ebenso ist das mit dem Menschenrechten und dem Universalethos. Nehmerländer bekennen sich dazu, weil sie hilflose Opfer der Anmaßung des Westens sind, der einen ethischen Maßstab für die ganze Menschheit innezuhaben beansprucht. Sam Huntington hat diese Beziehung in seinem bedeutenden Werk „Kampf der Kulturen“ ebenso knapp wie umfassend gekennzeichnet: „Die Nichtwestler betrachten als westlich, was der Westler als universal betrachtet.“
Und dann gibt es noch die islamische Welt. Sie hat einen höchsteigenen Kodex, der sich zwar an der UN-Charta orientiert, aber alle Punkte unter den Vorbehalt der Scharia stellt. Das heißt, was von dieser abweicht, hat keine Geltung für rund eine Milliarde Menschen. So bleibt von der Idee des Weltethos nichts als der Hochmut eines geistigen Neokolonialismus, der den Westen in der Welt verächtlich macht.