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16.02.18 / Kunst trägt Feigenblatt / Die Kultur muss sich warm anziehen – Eugen Gomringers Gedicht »Avenidas« ist nur das erste Opfer einer Empörungswelle

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-18 vom 16. Februar 2018

Kunst trägt Feigenblatt
Die Kultur muss sich warm anziehen – Eugen Gomringers Gedicht »Avenidas« ist nur das erste Opfer einer Empörungswelle
Harald Tews

Auf die Kunst kommen schwere Zeiten zu. Als anstößig empfundene Gedichte werden übertüncht, alte Kunstwerke mit Darstellungen nackter Personen aus Museen verbannt. Erleben wir eine neue Epoche der Bilderstürmerei?

In der Kunstgeschichte genießt der italienische Renaissancemaler Daniele da Volterra einen fragwürdigen Ruf. Er wird als „Hosenmaler“ bezeichnet, weil er nackte Gestalten in der Malerei „angezogen“ hat. Sein größter Frevel ist noch heute in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans zu sehen. Der Schüler Michelangelos hat nach dem Tod seines Meisters auf Geheiß Papst Pius’ IV. einigen in dem monumentalen Wandfresko „Jüngstes Gericht“ ursprünglich vollständig im Adamskostüm gezeigten himmlischen Gestalten einen Schleier über die Ge­schlechtsteile gelegt.

In späteren Jahrhunderten übertünchten auch andere Maler diese und andere nackte Tatsachen. Bei jüngsten Restaurierungen konnten deren Hinzufügungen zum größten Teil wieder rück­gängig gemacht werden. Nicht jedoch jene des Hosenmalers, da er sie als Fresko verarbeitet und dafür Michelangelos originale Blößen amputiert hatte.

Adam und Eva waren ursprünglich splitternackt. Erst ein zunehmend von christlicher Sittenstrenge geprägter Zeitgeist verpasste ihnen Feigenblätter über ihre Intimstellen. Wann und wo dieses in der Kunst geschah, sagt auch viel über die kulturelle Empfindlichkeit aus. Während sich in Florenz – noch – niemand daran stört, dass Michelangelos David ohne Lendenschurz vor dem Alten Rathaus der Stadt auf der Piazza della Signoria steht, trägt eine Kopie dieser gigantischen Marmorstatue im Londoner Royal Albert Museum eigens ein Feigenblatt aus Gips.

Der Spruch „No sex please, we’re British“ kommt nicht von ungefähr. Die Prüderie im Inselreich hat ihre Wurzeln im viktorianischen Zeitalter, als sich die Briten so zugeknöpft gaben wie ihre damalige Queen Victoria auf den königlichen Gemäldeporträts.

Vor 50 Jahren hat die 68er-Be­wegung noch die „sexuelle Revolution“ ausgelöst. Mit den Frauen- und Genderbeauftragen, die auf diesem Weg der moralischen Selbstbefreiung mit durch die Institutionen gewandert sind, frisst sich diese Revolution selbst auf. Ein neuer Viktorianismus greift um sich, die Kunst trägt wieder Feigenblatt oder wird gleich ganz entfernt.

Aktuellstes Opfer dieser neuen Gegenmoral, die alles zensiert, was als sexuell anstößig betrachtet werden kann, ist Eugen Gomringers Gedicht „Avenidas“, das noch die Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule ziert. Sechs Jahre lang störte sich niemand an den Wortfetzen in spanischer Sprache, bis eine aufgehetzte Studentenvertretung im Zuge der Empörungswelle um die „MeeToo“-Debatte dieses Gedicht eines „Bewunderers“ den Stempel „frauenfeindlich“ aufgedrückt hat. Bald kommt ein radikaler Hosenmaler daher: Er wird die Lettern an der Fassade übertünchen und durch neue Verse einer Lyrikerin ersetzen, die nur noch aus Feigenblatt besteht.

Die heutigen Empfindlichkeiten lösen eine Variation der Bücherverbrennung aus, vor der nicht einmal anerkannte Klassiker ge­schützt sind. Wer einmal erlebt hat, was für Blüten die Hexenverfolgung sexuell anrüchiger Literatur an US-Hochschulen treibt, der ahnt, was auf uns noch zukommen mag. Dort gibt es Forderungen nach „Trigger-Warnungen“, wenn Bücher nicht den Anforderungen einer verängstigen Gruppe der Bevölkerung entsprechen. Es handelt sich um eine Art Beipackzettel, der sich etwa so liest: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre Frauenbeauftragte oder Ihren Psychoanalytiker.“ 

Solches hätte laut einem US-Studenten in Sophokles Drama „Antigone“ stehen müssen, denn die darin geschilderten Selbstmorde hätten bei ihm ein Trauma ausgelöst, das in einen Suizid hätte führen können. Selbst der Klassiker der modernen US-Literatur schlechthin, F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“, steht wegen angeblicher Misogynie (Frauenhass) auf der Abschussliste. Wenn es so weitergeht, müss­ten auch hierzulande in nahezu jedem Klassiker Warnhinweise vor möglichen gefährlichen Inhalten stehen: „Faust“ – Satanismus, Anleitung zum Wahnsinn, „Die Räuber“ – Gewaltverherrlichung, „Effi Briest“ – eheliche Untreue. 

Ob Grimms Märchen wegen schockierender Horrorelemente

– Gretel wird vom Wolf gefressen und wieder ausgespuckt – für Kinder noch pädagogisch zumutbar sind, wird schon lange diskutiert. In London wollte jetzt eine Helikopter-Mutter der Schule ihrer Tochter verbieten lassen, „Dornröschen“ zu lesen, weil der Prinz die schlafende Prinzessin ohne ihre Einwilligung küsst.

Mit den unter ständiger Kontrolle ihrer Eltern aufgewachsenen Kindern wächst eine Helikopter-Generation heran, die alles abwehrt, was auf ihr zartes Gemüt schlagen könnte. Inzwischen bieten Hochschulen „sichere Orte“ an, die vor unzeitgemäßen An­sichten Schutz bieten sollen. Es handelt sich um Kuschelzonen, in denen die Utopie einer Sozialromantik ausgelebt wird, die von der als gefährlich empfundenen Welt abgekapselt ist. In dem Science-Fiction-Film „Demolition Man“ von 1993 ist das bereits auf eine köstliche Weise persifliert: Wehrlose Bewohner einer friedfertigen Stadt der Zukunft kapitulieren dort vor einem einzigen Gewaltverbrecher, der aus der Vergangenheit dort hereinbricht.

Der Gewaltverbrecher, vor dem man heute Angst hat, heißt „Andersdenkender“. Die Gefahr der Abschottung in „sicheren Räumen“ bedeutet ein Ausweichen vor kritischer Auseinandersetzung mit anderen Denkgewohnheiten sowie einem Ende der Diskussionskultur. Eine Kunst, die nicht den Genderrichtlinien entspricht, bleibt dabei auf der Strecke. Das gilt selbst für einen Rokoko-Maler wie François Boucher. Als ein Kunstlehrer im US-Bundesstaat Utah seinen Schülern ein Boucher-Gemälde mit einer nackten Odaliske zeigte, wurde er wegen Präsentierens von „pornografischem Material“ gefeuert. Gemessen daran müsste jede Gemäldegalerie die Hälfte der Bilder entfernen, da die Besucher sonst einen Schock fürs Leben bekommen könnten. 

Noch scheint der Widerstand gegen diese Kunstzensur groß zu sein. Als die Manchester Art Gallery kürzlich probeweise ein Ge­mälde aus dem 19. Jahrhundert mit nackten Nymphen ins Depot verbannte, war der Aufschrei vor diesem Kulturfrevel groß. Man hängte es wieder auf. Geht die Hysterie vor sexueller Gewalt allerdings weiter, wird ein neuer Hosenmaler in zukünftigen Jahren besonders viel zu tun haben. Mit Feigenblättern wird er sich dann nicht abfinden. Er wird die Nackten wohl gleich in einen Tschador kleiden.