27.04.2024

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16.02.18 / Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-18 vom 16. Februar 2018

Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

heute eine Erzählung als Dank für die vielen und herzlichen Glückwünsche zu meinem 102. Geburtstag. Und für die Blumengrüße: Rosen, Tulpen, Nelken… sie erinnern mich an den Vers in meinem Poesiealbum: „…alle Blumen welken, Stahl und Eisen bricht, aber unsre Liebe nicht.“ Immer stand darunter: „Zur Erinnerung an Deine Schulfreundin…“ und dann folgte der jeweilige Name. Manchmal war auch ein Stammbildchen eingeklebt, das Blumenmotive aufwies. So wie der Wunsch „Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein, und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein“ passend einen Kranz aus Veilchenbildern bekam. Und damit hatte mich die betreffende Schreiberin voll erwischt, denn Veilchen waren und sind meine Lieblingsblumen – bis heute. Weil ich, das Stadtkind, sie pflücken konnte. Nicht in einem Garten sondern auf einem der Wälle, die meiner Heimatstadt Königsberg einen grünen Gürtel gaben. Und wenn auch das bis zur Flucht sorgsam bewahrte Poesiealbum längst verbrannt oder verrottet ist, so bleibt doch – selbst nach über 90 Jahren! – die ungetrübte Erinnerung an die Schule, an die Freundinnen und an die Veilchen, die Veilchen vom Litauer Wall.

Meine Gedanken gehen einen weiten Weg zurück, über Ströme, Grenzen und Länder hinweg bis nach Königsberg, in die Stadt meiner Kindheit. Und sie finden eine Schulklasse, in der sich blonde und braune Mädchenköpfe über Mathematikhefte beugen. Es ist ein sehr enges Klassenzimmer, und es liegt hoch oben im Dachgeschoß eines schmalen, etwas düsteren Hauses in der Prinzenstraße, und wenn ich den Blick hebe, sehe ich in die noch kahlen Kronen der Kastanienbäume im Garten des Landeshauses hinein. Und nun höre ich ein Flüstern, das nichts, aber auch gar nichts mit der ungeliebten Mathematik zu tun hat: „Du, ich hab’ gestern schon Veilchen auf dem Litauer Wall gefunden.“ „Quatsch, jetzt schon Veilchen?“ „Ehrenwort, es stimmt. Kommst du heut Nachmittag?“

Die ersten Veilchen! Wenn auf dem düsteren Hof unseres Mietshauses noch die letzten grauen Schneefetzen lagen, kroch ich schon die steilen Wallhänge hinter dem Kleinbahnhof am Königstor empor, um in dem kahlen Gestrüpp nach dem ersten violetten Schimmer zu suchen. Und wenn ich es gefunden hatte, das erste Veilchen – nur ein lila Punkt in dem grünen Knospenmantel –, wurde es behutsam wie eine große Kostbarkeit nach Hause getragen: „Muttchen, die Veilchen blühen all auf dem Litauer Wall!“

Das bedeutete unendlich viel. Zuerst einmal: Es wird tatsächlich Frühling! Lange genug mussten wir ja auf ihn warten. Und das heißt auch: Jetzt durfte man wieder murmeln und Kullerreifen treiben, und am Sonntag ging es mit der Kleinbahn nach Neuhausen-Tiergarten zum Anemonenpflücken und Waldmeistersuchen. Und man durfte endlich wieder die schwarzen Wollstrümpfe ausziehen und Wadensöckchen tragen. Das bedeutete vielleicht am allermeisten!

Wie ich sie hasste, diese zwei kraus, zwei glatt gestrickten, dicken, kratzenden Strümpfe, die mit einem Wäscheknopf an den grauen von der Wiste herabhängenden Gummibändern befestigt wurden. Vergeblich versuchte ich zu beteuern, dass kein anderes Kind – aber auch wirklich: kein Kind! – solche hässlichen Strümpfe bei diesem Frühlingswetter trug.

Muttchen hatte zweifellos den härteren Schädel. „Du bist viel zu piepsig, um jetzt schon Waden­strümpfe zu tragen. Die ziehst die Wollenen an!“ Und ich trug weiter diese tintenschwarzen Alpträume meiner Kindheit und heulte vor Wut, wenn ich morgens die brauen Schnürstiefel zuband. Ich wusste genau, die freche Christel von der Lomse würde wieder spotten: „Kiek die, vielleicht zieht sie auch noch Mauchen an, damit sie ohne die Pulswärmer bloß nicht verfriert!“ Und alle anderen Mädchen würden Wadenstrümpfe oder sogar „Seidene“ tragen. Ach, die Seidenen! Die hatten es mir angetan. Und ich bettelte und pranzelte so lange, bis auf dem Geburtstagstisch tatsächlich ein Paar Kunstseidene lagen. „Aber die werden erst zu Pfingsten angezogen!“

Die Sonne schien so frühlingswarm in die enge Prinzenstraße. In Königseck leuchtete der erste blühende Ahorn. Und auf dem Litauer Wall blühten die Veilchen. Zu Hause gab es Sauerampfersuppe mit harten Eiern. Und wenn man es bisher noch bezweifelt hatte, daran merkte man es jetzt untrüglich: Der Frühling ist da!

„Muttchen, darf ich Wadenstrümpfe anziehen? Wir gehen auf den Wall, Veilchen suchen.“ „Unsinn, im Schatten ist es noch viel zu kalt. Du behältst die Wollenen an.“ Nach dem Essen ging Vater wieder zum Dienst, während sich Muttchen seufzend entschloss, den schon lange fälligen Besuch bei Tante Emma abzuleisten. Die Wohnungstüre klappte. Ich war allein. Nur mein großer Bruder büffelte im seinem Zimmer für sein Examen. War es wirklich Zufall, dass ich plötzlich vor der Kommode stand, in der meine Wäsche lag? Ich zog das zweite Fach auf: Da lagen sie, die Seidenen und glänzten in ihrer Pracht. Ganz vorsichtig strich ich über die kunstseidene Versuchung …

„Au, du hast Seidene an!“ rief Else bewundernd, als ich eine Viertelstunde später atemlos am Königstor erschien. Ich wich jeder weiteren Frage aus, indem ich schrie: „Los, wer zuerst am Bahnhof ist!“ Wir peesten wie die Wilden zu dem kleinen Stationsgebäude zwischen Herzogsacker und Litauer Wall. Und dann über die Schienen rüber wie der Blitz! Die steilen Hänge hinauf bis zu den Schießscharten der ehemaligen Bastion. Unten schnaufte der „rasende Litauer“ beim Rangieren. „Damliche Kräten!“ schrie der Lokführer und drohte uns mit der Faust. Wir waren aber schon in der Wildnis am Hang zum Wallgraben verschwunden. Ja, damals war es eine Wildnis. Da gab es noch keine gepflegten Rosengärten und Bänke zum Ausruhen und keine Promenaden mit Sandwegen am Ufer des Wallgrabens. Es war ein heimliches, eigentlich verbotenes Spielparadies mit Weidenbüschen und Wildrosen, mit Kletten und Disteln. Wir banden die Husche zu grünen Lauben zusammen und spielten „Wohnungchen“. Alte Kochtöpfe, Eimer und Konservendosen lagen genug umher, leider auch Glasscherben, aber die störten uns nicht. Und da stand es mitten auf der Wallkrone: das erste Veilchen!“ „Ich hab’s, ich hab’s!“ schrie ich und griff nach dem kurzen Stängelchen.

Da verlor ich das Gleichgewicht. Else schrie auf, sie sah, wie ich stürzte und den Hang hinabkollerte, fast bis vor die Schienen der Kleinbahn. Aber nicht der Schmerz des Fallens – nein viele kleine Schmerzen waren es, brennende Stiche, als sei ich in ein Wespennest gefallen! Es war aber verrosteter Stacheldraht, in den ich mit voller Wucht hinein gekollert war. Mein rechtes Bein blutete, auch das linke war zerschrammt. Ich schrie wie am Spieß. Nicht wegen der Schmerzen. Nein, die Seidenen! Meine Seidenen!

„Nun, hör doch auf zu brüllen, sonst erwischt uns der Schupo!“ Das war das einzige, was die ratlose Else zu sagen wusste. Aber vor den übel zugerichteten Kunstseidenen kapitulierte auch sie. „Vielleicht kannst du sie stopfen …“, war ein schwacher Versuch, mich zu trösten. Ich schlich mich nicht über die belebte Königsstraße, sondern über das menschenleere Kasernengelände Herzogsacker nach Hause. Gott sei Dank, Muttchen war noch nicht da. Schnell schloss ich mich auf dem verschwiegensten Ort der Wohnung ein. Mit einer Stopfnadel und braunen Twist. Und dann versuchte ich, meine Seidenen zu reparieren. Es war ein zweckloses Unterfangen. Von jedem der vielen Löcher gingen zahllos Ribbelmaschen aus. Und wo ich die dicke Stopfnadel einsteckte, liefen neue. Als nach einer halben Stunde mein Bruder energisch Einlass begehrte, öffnete ich und verschwand auf meinem Zimmer.

„Was hast du denn, Ulli?“ „Och nichts …“ Aber er ließ nicht locker. „Au backe“, sagte er. „Mensch, das kann ja eine böse Blutvergiftung geben!“ Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Wenn er mich auch sonst piesackte, diesmal hatte er Mitleid mit seiner kleinen Schwester. Vielleicht betrachtete er als blutjunger Student der Medizin mich auch nur als willkommenes Objekt, denn er pinselte sorgfältig alle die kleinen Wunden und Risse mit Jod aus. Ich flehte ihn an, Muttchen nichts zu verraten. Die Seidenen hatte er nicht gesehen. Die hatte ich voller Wut hinter den großen Kachelofen gedämmert.

Muttchen wunderte sich wohl am nächsten Morgen, dass ich ohne zu Klagen die Schwarzen anzog. Aber dann fand sie die Seidenen! Und das hätte wohl furchtbare Folgen gehabt, wenn sie nicht auch die jodbraunen Stellen an meinen Beinen entdeckt hätte. Am nächsten Morgen durfte ich ungefragt weiße Wadenstrümpfe tragen. Muttchen hatte sie mir auf die Bettkante gelegt.

Das ist meine Geschichte von den Veilchen vom Litauer Wall. Und wo ich auch später Veilchen fand – irgendwie war es immer mit einer wundersamen Geschichte verbunden. So wie das Wiedersehen mit Agnes Miegel nach der Vertreibung aus unserer gemeinsamen Heimatstadt. Ich hatte gehört, dass sie, aus dänischer Internierung entlassen, auf einem Schloss in der Nähe von Bad Nenndorf lebte. Es war im März 1947, und ich wollte sie besuchen, hatte aber nur ein Glas selbstgekochte Rhabarbermarmelade als Mitbringsel – wer dachte damals schon an Blumen? Es war ein wundervoller sonniger Märztag, die Luft roch schon nach Frühling und dann geschah kurz vor dem Schloss Apelern das, was ich Wunder nenne: Über einer sonnenheißen Sandgrube breitete sich ein Teppich von wilden Veilchen aus, wie ich ihn in dieser Fülle nie erlebt hatte. Und nie wieder einen solchen Strauß gebunden hatte, wie ich ihn der Dichterin schenken konnte. Es waren zwar nicht ihre Lieblingsblumen – lila Tulpen –, aber das kräftige Violett der Veilchen leuchtete durch das Grau des Turmzimmers und ließ sie lächeln, obgleich sie in dem kalten Raum hoch über dem Burggraben sehr fror.

Und auch in selber haben erst vor einigen Jahren ein Veilchenwunder erlebt, jedenfalls ist es das für mich. Meine Schwiegertochter Ute, die diese Geschichte kannte, kam aufgeregt zu mir: Sie hatte ein Veilchen in unserem Garten entdeckt, eng geschmiegt an die Hauswand und genau unter meinem Fenster. Noch ein junges Pflänzchen – aber wer hatte es gesetzt? Niemand – es war von irgendwoher gekommen…

Eure Ruth Geede