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02.03.18 / Deutscher Flugzeugbau für die Sowjets / Wie sich die UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg Know-how und Know-how-Träger des Dritten Reiches sicherte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-18 vom 02. März 2018

Deutscher Flugzeugbau für die Sowjets
Wie sich die UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg Know-how und Know-how-Träger des Dritten Reiches sicherte
Volker Schobeß

Rund 20000 deutsche Wissenschaftler, die in der NS-Zeit auf allen Gebieten der Rüstungsindustrie gearbeitet hatten, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Sowjetischen Besatzungszone in die Sowjetunion verbracht. Darunter befanden sich 1400 so­ge­nann­te Flugspezialisten. Doch nicht nur durch Deportationen machte sich die UdSSR das Know-how des Dritten Reiches im Allgemeinen und auf dem Gebiete des Flugzeugbaus im Besonderen zu nutze.

Seit sich der Russlandfeldzug Ende 1942 zuungunsten Deutschlands zu entwickeln begann, setzte Adolf Hitler seine ganze Hoffnung auf neuartige Waffen und verstärkte ihre Weiterentwicklung. Mit den sogenannten Wunderwaffen gedachte er, der feindlichen Übermacht an Menschen und Material noch Herr zu werden. Am Ende des Kriegs wies der technologische Vorsprung bahnbrechender Waffen tatsächlich weit in die Zukunft. Die Überlegenheit all dieser Erfindungen konnte freilich den Ausgang des Krieges nicht mehr beeinflussen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und die greifbaren Ergebnisse dieser Hochtechnologie-Waffen überlebten jedoch den Untergang des Dritten Reichs. Heutige Wissenschaftler billigen der innovativen Waffenentwicklung und ihrer industriellen Fertigung einen Vorsprung von damals zehn Jahren zu.

Die UdSSR suchte daher im Anschluss an die Eroberung Ost- und Mitteldeutschlands dort sehr energisch nach deutschen Flugzeugbauern, Triebwerksbauern und Raketenkonstrukteuren. In Ost- und Mitteldeutschland wurden von russischen Sonderkommissionen etwa 600 Betriebe, die mit der Produktion von Flugzeugen, Motoren, Fluginstrumenten oder -aggregaten befasst waren, ins Visier genommen. 213 dieser Firmen gehörten führenden Luftfahrtunternehmen. An deren Spitze standen Junkers, Arado, BMW, Daimler-Benz, Siemens und Askania. Als am weitesten entwickelt galten damals die Strahltriebtechnik und ihre serienmäßige Umsetzung. Die wichtigsten führenden Neuentwicklungen gab es damals auf den Feldern Düsenflugzeuge, Flugzeugmotoren, Gasturbinen, Flüssigkeitsmotoren für Jets, radargelenkte Fernraketen mit Strahltriebwerken, Senkrechtstarter, Nurflügel-Bomber, funk- und bildgesteuerte Flugbomben sowie düsengetriebene Gleitbomben. Die Alliierten besaßen nichts all den angeführten Waffen Vergleichbares. 

Die Sowjetunion versuchte daher mit allen Mitteln, die deutsche Technik und ihre Produktionsgrundlagen für landeseigene Entwicklungen in die Hand zu bekommen. Für die Umsetzung dieser Pläne hatte man schon vor 1945 ein sogenanntes Trophäen-Programm erarbeitet. Die erste Etappe der Sowjets galt der Übernahme der Luftfahrt-Forschungszentren, die sich in der eigenen Besatzungszone befanden. Zu nennen sind die Forschungszentren in Berlin-Adlershof, Dessau, Halle, Leipzig, Staßfurt, Brandenburg und Rostock. Die entscheidende Frage für einen Nach- oder Weiterbau der beschriebenen Waffensysteme hing freilich vom ehemaligen Personal ab, das es nun galt, neu zu rekrutieren. Führende Gelehrte und Spezialisten wurden daraufhin ausfindig gemacht und vorläufig festgenommen. Jeder, der infrage kam, musste einen ausführlichen Bericht über seine vormalige Tätigkeit liefern und dar­über Referate abhalten. Allein auf dem Gebiet des Luftfahrtwesens wurden im Jahr 1945 635 habilitierte Wissenschaftler und Diplomingenieure sowie etwa 1500 Techniker und Meister in Gewahrsam genommen. Danach ließ man in den alten Werkhallen, wie in dem Junkers-Werk in Dessau, durch die Deutschen unter russischer Aufsicht unvollendete Messerschmitt Me 262 zu Ende bauen. Das war möglich, weil sich der Messerschmitt-Konzern zwar in Bayern befand, der Zusammenbau dieses Düsenjägers aber während des Krieges auch in Dessau stattgefunden hatte. Ebenso arbeitete man in Staßfurt an einzelnen BMW-Düsentriebwerken weiter. Die anderen obengenannten Standorte hatten ebenfalls angefangene Arbeiten an Einzelobjekten abzuschließen. Fertiggestellte Objekte wurden sofort in die Sowjetunion verschafft. Weitere Spezialisten suchten die Sowjets unter den deutschen Internierten und Kriegsgefangenen. In einem von Generalleutnant Alexander Kobulow abgezeichneten Sonderbericht vom 6. Januar 1949 werden auch die Ingenieure Albert Druck und Alois Weber genannt. Druck war ein Spezialist für Beschleunigungsmessgeräte und Weber hatte erfolgreich an der Umwandlung von Strahlenenergie geforscht.

Neben den fertigzustellenden Einzelobjekten sicherte man sich auch die existierenden Testmodelle an Flugzeugen und Triebwerken, um sie nach Russland zu überführen. Darunter war der Prototyp eines Flugzeugs vom Typ Siebel/DFS 346. Das war ein raketengetriebenes Hochgeschwindigkeitsflugzeug aus Halle, sowie ein Flugzeug vom Typ Junkers EF 126 aus Dessau, ein Pulsostrahl-Schlachtflugzeug, von dem fünf Stück fertiggestellt waren. Die Siebel/DFS 346 war übrigens eine Blaupause für die sowjetische Mikojan-Gurewitsch MiG-15 der 50er Jahre. Der 1949 in Dienst gestellte Strahltriebjäger wurde erstmals im Koreakrieg eingesetzt. All diese erbeuteten Fluggeräte gingen zur Erprobung an das Zentrale Aerohydrodynamische Institut nach Moskau. An das Mikojan-Sonderkonstruktionsbüro wurden drei funktionsfähige Hochleistungsstrahltriebwerke der Reihe 003C von BMW übergeben. Alle restliche deutsche Technik ging in die alten russischen Versuchswerke Nr. 1 bei Moskau und Nr. 2 in Kalinin, dem heutigen Twer. Bekannt ist auch die Überführung eines Strahltrieb-Bombers vom Typ Junkers Ju 287 (EF 131), der bis 1948 getestet wurde. Ursprünglich war sogar vorgesehen, den Düsenbomber zum Tag der Luftflotte 1947 in Moskau auf einer Flugschau zu zeigen. Mit dem vermeintlich russischen Gerät sollten die USA beeindruckt werden. Aus technischen Gründen musste die Vorführung zum Ärger Josef Stalins in letzter Minute abgesagt werden. 

Ende 1945 begann die zweite Planungsetappe der Sowjets mit der Schaffung sogenannter wissenschaftlich-technischer Reservoirs. Sinn des Ganzen war es, eine straffe Führungsorganisation für den gezielten Weiterbau aller bedeutenden Flugsysteme unter deutscher Leitung zu gründen. In der Zwischenzeit wendeten sich nicht wenige deutsche Spezialisten an die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) und boten freiwillig ihre Dienste an. In einem schriftlichen Bericht des Chefs der 1. Abteilung des bevollmächtigten Sonderkomitees beim Ministerrat der UdSSR in Deutschland, General Anatolij Ananjew, an den Vertreter der Luftfahrtindustrie wird ein deutscher Flugzeugbauingenieur zitiert, der an dem raketengetriebenen Senkrechtstarter Bachem Ba 349 „Natter“ gearbeitet hatte: „Ich steh’ der russischen Militärmacht zur Verfügung, denn die ,Natter‘ ist von besonderem Interesse, und ich schlage vor, mir die Möglichkeit zu geben, alle ehemaligen Mitarbeiter durch persönliche Besuche zu sammeln und auf diese Weise alle schriftlichen Unterlagen und Zeichnungen zu sammeln …“ Mit ähnlichen Beispielen ließe sich fortfahren.

Im Herbst 1945 begann unter strenger Geheimhaltung das Arbeitsprogramm, nämlich die Gründung der einzelnen deutschen sogenannten Sonderkonstruktionsbüros. Das waren die Konstruktionsbüros für den Instrumentenbau in Berlin sowie Triebwerk- und Flugzeugbau in Dessau und in Halle. Staßfurt war für den Motorenbau vorgesehen, das Leipziger Sonderbüro war für Gussstücke, metallische Beschichtungen und Katapultanlagen zuständig. Für Windaggregate und Schiffstechnik eröffnete man in Rostock ein Sonderbüro. Einen Schwerpunkt für die Russen bildeten weiterhin die deutschen Versuchsarbeiten an Strahltriebwerken und die Fertigung von Düsenjägern und Düsenbombern. Alle Bemühungen der Sowjets standen unter Zeitdruck, da man nach dem Abwurf der Atombomben durch die USA bestrebt war, bei der Rüstung schnell aufzuholen. Im März 1946 befasste sich eine Sonderkommission der sowjetischen Regierung mit dem Stand der Arbeiten zur Übernahme der neuen deutschen Technik. Nach dem vielversprechenden Abschlussbericht fasste der Ministerrat einen neuen Beschluss (Streng geheim Nr. 874-366) vom 17. April 1946 und bestätigte den Plan für die weitere Durchführung von Versuchsarbeiten an Düsenflugzeugen und Strahltriebwerken in Deutschland. Ab dem 19. April 1946 begann die eigentliche Arbeit der unterschiedlichen deutschen Sonderkonstruktionsbüros an ihren obengenannten Standorten, also in den alten Werkstätten. Die schwerbeschädigten Fabriken waren inzwischen durch deutsche Arbeiter wiederhergerichtet worden. Da alle Maßnahmen unter Geheimhaltung fielen, wurden alle Forschungs- und Produktionsstätten von bewaffneten NKWD-Truppen abgeriegelt. Im Werk selbst wurde alles überwacht, und an der Seite eines jeden Deutschen stand ein Russe. Der Personalbestand rekrutierter deutscher Spezialisten für die Sonderkonstruktionsbüros wuchs ständig an. Standen beispielweise in Halle anfangs nur 41 Personen zur Verfügung, belief sich ihre Zahl im Juni 1946 bereits auf 1156. Ähnlich war der Personalanstieg in den anderen Forschungs- und Sonderkonstruktionsbüros. 

Interessant ist die personelle Zusammensetzung vom Büro des prominenten Flugzeugspezialisten Brunolf Baade, der vor dem Krieg für den Flugzeugbau in den Junkers-Werken in Dessau hauptverantwortlich gewesen war. Unter Baade waren erfolgreiche Junkers-Kampflugzeuge wie der Sturzkampfbomber Ju 87, der Schnellbomber Ju 88 und das berühmte Transportflugzeug Ju 52, die „Tante Ju“ konstruiert worden. Baade wurde auch bald zum Hauptkonstrukteur der Deutschen in der Sowjetunion und kehrte erst 1954 in die mittlerweile gegründete DDR zurück. Unter seiner Leitung wurde in der DDR der Prototyp eines ersten Düsen-Passagierflugzeugs vom Typ 152 gebaut. Zeitverzögerungen wegen Materialknappheit und Unfälle beendeten jedoch das Flugzeugprogramm. Baade machte aber weiterhin Karriere, war Kandidat des Zentralkomitees der SED und Mitbegründer des Forschungsrats der DDR. 

In Russland arbeiteten unter Baade insgesamt 433 Personen, darunter zwei promovierte Ingenieure, 31 Diplomingenieure, 164 gra­duierte Ingenieure, 106 Kon­strukteure, 33 technische Zeichner, 95 Arbeiter und Angestellte sowie zwei Testpiloten. Zur Motivation führte die sowjetische Leitung ein entsprechendes Gehaltsystem ein sowie mehrere Arten von Prämien. In Deutschland wurde das deutsche Personal auch privat überwacht, damit Übersiedlungsversuche in den Westen rechtzeitig unterbunden werden konnten. Gemäß der sowjetischen Weisung Nr. 228 des Ministers der Luftfahrtindustrie vom 19. April 1946 mit dem Stempel „Streng Geheim“ mussten alle Arbeiten in Deutschland bis Oktober 1946 abgeschlossen sein. Danach sollten sämtliche Spezialisten durch eine vorbereitete Aktion namens „Ossawakim“ in Betriebe des Ministeriums des Inneren nach Russland überstellt werden. Die Fachleute der einzelnen Sonderkonstruktionsbüros blieben wohl zusammen, die Ansiedlung der unterschiedlichen Fachgruppen war aber für weit voneinander entfernte Orte vorgesehen. Einzelne Standorte befanden sich in der Nähe von Moskau im Dorf Krasnaja Glinka, im Gebiet Kujbyschew in Samara und im Dorf Uprawlentscheskij in Kasan. Der Befehl lautete, insgesamt 1400 ausgesuchte Ingenieure und Arbeiter zu deportieren, mit ihren Familien zusammen 3500 Menschen. Hierbei handelte es sich aber nur um die sogenannten Flugspezialisten. Die Gesamtanzahl deutscher Wissenschaftler, die auf allen Gebieten der Rüstungsindustrie gearbeitet hatten und nach Russland deportiert wurden, belief sich nach Schätzungen auf rund 20000. Man spricht bei diesen Personen von der „zweiten Garnitur“, weil die führenden Wissenschaftler längst im Westen tätig waren. Das Deutsche Reich besaß bis 1945 auch etwa 16000 Patente auf dem Gebiet der Wehrwirtschaft. All diese Patentrechte wurden nach dem Krieg als Kriegsbeute betrachtet, durch die Alliierten entschädigungslos eingezogen und weitergenutzt. Die Überführung der Flugspezialisten in die Sowjet­union war unter militärischer Bewachung mittels speziell eingerichteter Personenzüge und nachfolgenden Güterzüge für den persönlichen Besitz geplant. Durch Stalin befohlen war eine zwangsweise Umsiedlung auf unbegrenzte Zeit. Obwohl die Aktion bis zum Schluss geheim blieb, beobachteten die deutschen Flugspezialisten mit Sorge den Abbau und die großflächige Demontage ihrer Produktionsstätten. Von dem, was auf sie tatsächlich zukommen sollte, hatten sie allerdings nicht ansatzweise eine Vorstellung. Führende sowjetische Luftfahrtingenieure, die sogenannte

Speztechotdel, die in ihrem Land bisher weniger erfolgreich gearbeitet hatten, ließ Stalin kurzerhand einsperren, um sie durch die Deutschen ersetzten zu lassen. 

Im Morgengrauen des 22. Ok­tober 1946 wurde auf dem Dessauer Hauptbahnhof ein Transportzug zusammengestellt. Sonderbrigaden der Truppen des sowjetischen Innenministeriums fuhren nachts mit Kraftfahrzeugen alle Adressen ab und sammelten die Fachleute ein. Innerhalb einer halben Stunde wurden die einzelnen Spezialisten mit ihren Angehörigen ohne großes Aufsehen und mit nur wenig Habseligkeiten auf Lastkraftwagen verladen. Hausrat wurde gesondert eingesammelt und später nachgeführt. Nur wenige Stunden nach der nächtlichen Aktion dampfte ein hermetisch verriegelter Personenzug, mit einem beträchtlichen Teil des Know-how des Dritten Reichs nach Russland ab.

Der Verfasser dieses Beitrags ist Leiter des Arbeitskreises Militärgeschichte im Förderverein des Potsdam-Museums.