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02.03.18 / Von »häuslichen« und staatlichen Straflagern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-18 vom 02. März 2018

Von »häuslichen« und staatlichen Straflagern
Dirk Klose

Der Leser wird vermutlich im ersten Moment vor über 900 Seiten zurück-schrecken. Und dann ist es wie so oft: Lässt man sich auf Karl Schlögels „Archäologie einer untergegangenen Welt“, so der treffende Untertitel seines neuen Buches, ein, kommt man nur schwer wieder davob los. Mit Sicherheit gehört „Das sowjetische Jahrhundert“ zu den bedeutendsten Arbeiten, die zur 100. Wiederkehr der Oktoberrevolution erschienen sind. Es liegt wohl am unkonventionellen Ansatz, den der Autor gewählt hat: Er analysiert nicht, wie sonst so oft, das sowjetische Regierungs- und Herrschaftssystem, sondern betrachtet die sowjetische Welt anhand ihres Alltags. Sein Fazit überrascht nach der Lektüre nicht mehr: „Das Territorium der ehemaligen Sowjetunion ist markiert von Punkten massenhaften Leidens, eine Memoriallandschaft des Todes und Überlebens.“

Schlögel beschreibt aus intimer Quellenkenntnis und persönli-chen Erfahrungen etwa 60 Manifestationen des Alltags. Das reicht vom Kleinsten bis ins Größte, etwa, um nur einige zu nennen, Ladenschilder und Plakate, Orden, Vergnügungsparks wie der Mos-kauer Gorki-Park, Parfums (das berühmte Chanel Nr. 5, man liest und staunt, ist russischen Ursprungs!), Klaviere, Sanatorien, Paraden, Festkultur, Film und Ballett, Eisenbahnen.

Dann auch größere Themen: Im Zuge der ehrgeizigen Industrialisierungspläne Ende der 1920er Jahre wurden in einem unglaublichen Tempo neue Industriestädte aus dem Boden gestampft. Schlögel bringt dafür die Stadt Magnitogorsk, die eigentlich nur aus dem riesigen metallurgischen Kombinat besteht und bald in dem Ruf stand, wegen der enormen Dämpfe und Abgase eine Stadt ohne Sonne und des frühen Todes zu sein. Ferner der gewaltige Staudamm von Dnjeprogres am Dnjepr, der Weißmeerkanal nahe der finnischen Grenze („Panamakanal am Polarkreis“), der von Tausenden von Häftlingen – vom System zynisch „Kanalarmisten“ benannt – gebaut wurde. Es war das erste Projekt, bei dem in größerem Maße Häftlinge eingesetzt wurden, was schon bald Schule machte. An Menschen mangelte es nicht, Schlögel nennt die erschreckende Zahl von fast 19 Millionen Menschen, die Opfer des Gulag geworden sind.

Mit Anteilnahme und leichtem Grausen wird der westliche Leser das Kapitel über das sowjetische Wohnungswesen („Kommunalka“) lesen. Wohnungen wurden zugewiesen, und da es viel zu wenig Wohnraum gab, war die Regel, dass Dutzende von Menschen in einer großen Wohnung lebten, oft ganze Familien in nur einem Zimmer. Es gab nur eine Küche und, was extremer ist, meist nur eine Toilette. Man war nie für sich, Privatsphäre war unmöglich. 

Schlögel nennt das Wohnen im Kommunalka-System ein „häusliches Straflager“, in dem soziale Katastrophen vorprogrammiert waren. Den Themen „Küche“ und „Toilette“ widmet er jeweils ein eigenes Kapitel. Die Küche wurde, notgedrungen, zu einem Ort der Geselligkeit, eine Toilette hingegen für oft mehr als 30 Personen, oft wenig sauber und  defekt, wurde fast zwangsläufig zu einem Ort ständigen Unfriedens. Dieser „Notzustand in Permanenz“, so Schlögel, änderte sich erst mit dem Beginn des massenhaften Plattenbaus mit jeweils eigenen Wohnungen.

Die düstersten Kapitel stehen ziemlich am Ende. Es ist das System der Straflager, hier gezeigt an der vormaligen Klosterinsel Solowki im Weißen Meer und am „Kältepol Kolyma“, das ist die nordöstlichste Region Sibiriens. Schlögel bringt Zeugnisse und Berichte von Überlebenden, die in der Summe so grausam sind, dass Worte wie „unfassbar“, „entsetzlich“ oder „menschenverachtend“ nicht übertrieben sind. In Solowki mussten die Häftlinge den Weißmeerkanal bauen, in Kolyma wurde Gold geschürft, wovon Moskau mehr und mehr forderte, mithin immer mehr Menschen dorthin gebracht wurden, von denen nur wenige überlebten. 

Die Temperaturen liegen dort monatelang unter minus 40 Grad. Morgens, so erinnerte sich ein Häftling, galt der erste bange Blick dem Thermometer. Zeigte es 49 Grad minus, musste man raus zur Arbeit, bei minus 50 Grad war Außenarbeit aus „humanitären Gründen“ untersagt. Der einstige Häftling Warlam Schalamow hat dieser für heutige Vorstellungen fast irrealen Welt in seinen Büchern ein bewegendes Denkmal gesetzt.

Ein Denkmal ist Schlögels Buch insgesamt, bewegend insofern, als man sich auch als westlicher Leser von einer Zentnerlast befreit fühlt. Nach dieser immensen Text- und Wissensfülle ist man mitunter fast selbst in die damalige Zeit hineingezogen, von der man sich aufatmend vergewissern kann, dass sie vorbei ist. Schlögel schreibt, den Entschluss zu diesem Buch habe letztendlich Putins Annexion der Krim und der unerklärte Krieg gegen die Ukraine gegeben. Man möchte einfach nicht glauben, dass alte Traditionen fortbestehen.

Karl Schlögel: „Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt“, C.H. Beck Verlag, München 2017, gebunden, 912 Seiten, 38 Euro