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16.03.18 / »Jeder, der vor uns wegrennt ...« / Auf der Jagd nach dem Feind beging die US Army vor 50 Jahren das Massaker von My Lai

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-18 vom 16. März 2018

»Jeder, der vor uns wegrennt ...«
Auf der Jagd nach dem Feind beging die US Army vor 50 Jahren das Massaker von My Lai
Wolfgang Kaufmann

Das Massaker von My Lai gilt als die schockierendste Einzelepisode des Vietnamkrieges. Das Kriegsverbrechen bewirkte einen drastischen Wandel der öffentlichen Meinung in den Vereinigten Staaten von Amerika zugunsten der Friedensbewegung. Seine Aufarbeitung durch die US-Militärjustiz geriet zur Farce.

Ende Januar 1968 erlebten die US-Truppen in Südvietnam eine böse Überraschung. Rund 80000 reguläre Soldaten der Demokratischen Republik Vietnam und Guerilla-Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront (FNL), von der US-Propaganda „Vietcong“ genannt, attackierten im Zuge ihrer Tet-Offensive (siehe PAZ 4/2018) über 100 strategische Ziele in Südvietnam einschließlich der Hauptstadt Saigon. Da die Offensive für die Angreifer äußerst verlustreich war, beschloss das US-amerikanische Oberkommando unter dem Viersternegeneral William Westmoreland, „den maximalen Vorteil aus der gegenwärtigen Situation zu ziehen und den Feind unnachgiebig unter Druck zu setzen“. Dazu gehörte die Außerkraftsetzung der bisherigen Schutzbestimmungen zugunsten von südvietnamesischen Zivilisten. US-Offiziere konnten nun nach eigenem Gutdünken entscheiden, wann und mit welchen Mitteln sie Ortschaften in besonders stark umkämpften Regionen angriffen.

Ein solches Gebiet war die Provinz Quang Ngai, in der das 48. Bataillon der Befreiungsfront operierte und nach Meldungen des US-amerikanischen Militärgeheimdienstes im Raum um das Dorf Son My Unterschlupf gefunden hatte. Hier sollte eine Einsatzgruppe unter Oberstleutnant Frank Barker die Guerillas eliminieren. Zur sogenannten Task Force Barker gehörte auch die Kompanie Charlie des 1. Bataillons des 20. Infanterie-Regiments innerhalb der 11. Brigade der 23. Infanterie-Division der US-Armee, die unter dem Kommando von Generalmajor Samuel Koster stand. Diese Kompanie wiederum setzte sich aus drei Zügen zusammen, deren Führer die Leutnants William Calley, Stephen Brooks und Jeffrey Lacross waren. Am Tag vor dem Einsatz schwor Kompaniechef Hauptmann Ernest Medina seine Untergebenen auf ein gnadenloses Vorgehen in Son My ein. Auf Rückfragen, wer genau denn dort der Feind sei, antwortete er: „Jeder, der vor uns wegrennt, sich versteckt oder ein Feind zu sein scheint.“ Damit griff Medina die unmissverständlichen Anweisungen Barkers sowie des Kommandeurs der 11. Brigade, Oberst Oran Henderson, auf, aggressiv zu agieren, das heißt, auch alle vermutlichen Unterstützer der Befreiungsfront zu liquidieren. Und tatsächlich fielen Medinas Äußerungen bei den Männern der Charlie-Kompanie auf äußerst fruchtbaren Boden, schließlich hatte die Einheit seit ihrem Eintreffen in Vietnam drei Monate zuvor bereits über 40 Mann durch Landminen oder Sprengfallen der Befreiungsfront verloren. Das ist der Hintergrund von dem, was vor einem halben Jahrhundert geschah. 

Kaum, dass Transporthubschrauber die Charlie-Kompanie am Morgen des 16. März 1968 unweit der zu Son My gehörenden Weiler Binh Tay und Xom Lang – auf US-Militärkarten fälschlich als „My Lai“ gekennzeichnet – abgesetzt hatten, begannen die GI des 1. Zuges unter Calley auf alles zu schießen, was ihnen vor die Gewehrläufe geriet. Hieraus entwickelte sich in kürzester Zeit ein Massaker an Frauen, Kindern und Greisen, an dem sich Angehörige aller drei Züge beteiligten, ohne dass ein Kämpfer der Befreiungsfront zu sehen gewesen wäre oder gar das Feuer eröffnet hätte. Deshalb wurde auch nur ein einziger GI während der Aktion verwundet. Der Obergefreite Herbert Carter schoss sich selbst in den Fuß.

Dahingegen kamen wohl über 500 südvietnamesische Zivilisten im Alter zwischen einem und 82 Jahren ums Leben, mitgerechnet diejenigen, die im benachbarten Weiler My Hoi – auf den US-Karten „My Khe“ genannt – den Tod fanden. Wahrscheinlich hätte es noch deutlich mehr Opfer gegeben, wenn nicht am späten Vormittag ein Hubschrauber des 123. Heeresflieger-Bataillons in der Szenerie erschienen wäre. Dessen Pilot, Warrant Officer (Fachdienstoffizier) Hugh Thompson, erkannte sofort, was sich hier abspielte und begann mit der Evakuierung der überlebenden Zivilisten. Dabei drohte er, seine Bordschützen, die Specialists (Stabsgefreiten) Glenn Andreotta und Lawrence Colburn, auf die Männer der Charlie-Kompanie feuern zu lassen, wenn diese ihr Tun fortsetzen oder die Rettungsmission behindern würden. 

Heute steht fest, dass es zwischen 1967 und 1971 viele ganz ähnliche Massaker an unbeteiligten südvietnamesischen Zivilisten gegeben hat – mit möglicherweise Zehntausenden von Toten. Allerdings wurde kein anderes derart bekannt wie das von My Lai. Das lag zum einen an Augenzeugen wie Thompson, die Meldung erstatteten und darüber hinaus auch Politiker informierten, und zum anderen an den Veröffentlichungen des Enthüllungsjournalisten Seymour Hersh, die wie eine Bombe einschlugen – wonach das „Life-Magazine“ dann noch aufwühlende Fotos des Armeereporters Ronald Haeberle von der Tötungsaktion präsentierte.

Hierdurch konnte das US-Militär, das zunächst behauptet hatte, in My Lai seien lediglich 128 Kämpfer der Befreiungsfront eliminiert worden, die Angelegenheit nicht länger vertuschen. Deshalb musste es 26 Verfahren gegen Tatbeteiligte und die Befehlsgeber bis hinauf zu Generalmajor Koster eröffnen. Allerdings kam es am Ende nur zu 14 Anklagen und einer einzigen Verurteilung. Für den „vorsätzlichen Mord an 22 Menschen“ erhielt William Calley im März 1971 eine lebenslange Haftstrafe. Dieses Urteil wandelte Präsident Richard Nixon indes nur zwei Tage später in Hausarrest um – und im September 1974 verfügte der Heeresstaatssekretär der Vereinigten Staaten, Howard Callaway, dessen Umwandlung auf „Bewährung“.

Dass sämtliche Verfahren gegen einfache GI eingestellt worden waren, begründeten die Militärrichter mit dem Satz: „Ein Soldat sollte auch ungesetzlichen Befehlen eines Offiziers gehorchen, denn er ist ein blinder Vollstrecker der Anordnungen seines Vorgesetzten.“ Dies wiederum kommentierte der US-amerikanische Hauptankläger bei den Nachfolgeprozessen zum Nürnberger Prozess, Brigadegeneral Telford Taylor, mit den Worten: „Es ist uns offensichtlich nicht gelungen, das zu lernen, was wir uns angemaßt haben, in Nürnberg zu lehren.“