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16.03.18 / Für die Porsches unter den Pferden / Auf dem Wiener Kongress erhielt Preußen Sachsens Hauptgestüt Graditz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-18 vom 16. März 2018

Für die Porsches unter den Pferden
Auf dem Wiener Kongress erhielt Preußen Sachsens Hauptgestüt Graditz
Sibylle Luise Binder

Will ein Jüngling aus reichem Hause heutzutage eine holde Maid beeindrucken, fährt er nach Stuttgart-Zuffenhausen und kauft einen Porsche. Früher wäre er nach Graditz gefahren und hätte einen Vollblüter angeschafft. Wäre er dann mit dem bei der Dame seines Herzens vorgeritten, hätte sie gewusst, dass ihr Verehrer nicht nur Geld, sondern auch Geschmack und Mut hat.

Den braucht es nämlich, um sich auf einen Blüter – so heißen die vierbeinigen Schmuckstücke bei ihren Freunden – zu schwingen. Im Gegensatz zu allen anderen Pferderassen, bei denen Menschenfreundlichkeit ein Selektionsmerkmal der Zucht war, waren das Temperament und die Kooperationsbereitschaft bei den Englischen Vollblütern – so heißt die Rasse offiziell – kein Thema. Da galt „Hauptsache schnell“.

Die Entstehung der Rasse ist der Wettleidenschaft der Engländer und drei glücklichen Zufällen zu verdanken. Die Wettleidenschaft sorgte dafür, dass man in England schnelle Pferde züchten wollte; die drei Zufälle führten den Araberhengst Darley Arabian, den Berber Godolphin Barb und den turkmenischen Achal-Tekkiner Byerly Turk auf die Insel. Schon bald zeigte sich, dass die Nachkommen dieser Hengste alle anderen schlugen. Und so beschloss man, dass nur die Nachkommen dieser drei Tiere als „Englische Vollblüter“ gelten sollten. Das Zuchtbuch wurde geschlossen, und tatsächlich – seit 1793 wurden keine Pferde anderer Rasse mehr eingetragen und in der Zucht eingesetzt. Die Konzentration auf Reinzucht führte aber nicht nur dazu, dass die Englischen Vollblüter unglaublich schnell wurden, sondern gebar ganz nebenbei auch noch Eleganz und Härte. 

Kommen wir nach dieser Vorrede nun zu Preußen und dem Hauptgestüt Graditz. Reitpferdezucht war im Hohenzollernstaat mit seiner großen Wertschätzung des Militärs ein großes Thema – schließlich musste man die Kavallerie beritten machen. Dafür standen die preußischen Haupt- und Landgestüte Trakehnen und Neustadt an der Dosse zur Verfügung. Bei der Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen auf dem Wiener Kongress von 1814/15 kam dann ein drittes Staatsgestüt dazu: Graditz bei Torgau.

Das war 1688 vom „Sächsischen Mars“ , Kurfürst Johann Georg III., gegründet und 1722 von dessen Sohn und mittelbarem Nachfolger August dem Starken prachtvoll 

– inklusive Schloss – umgebaut worden. 1815 musste es Sachsens erster König, Friedrich August I., der bis zuletzt zu Napoleon gehalten hatte, zusammen mit der späteren preußischen Provinz Sachsen an Preußen abtreten. Zunächst einmal passierte nach dem Besitzerwechsel nichts. Die Preußen brauchten das dritte Staatsgestüt nicht. Und so dümpelte Graditz im Schatten der beiden anderen dahin. Das änderte sich erst, als 1866 Georg Graf Lehndorff, erfolgreicher Rennreiter und Vollblutpferdezüchter, zum Leiter des Gestüts Graditz ernannt wurde. Ein Jahr später wurde er preußischer Oberlandesstallmeister und machte sich an die Neuordnung der Gestüte: Trakehnen blieb das Gestüt für elegante, aber harte Kavalleriepferde; Neustadt an der Dosse sollte einen etwas schwereren Typ züchten, der sowohl als Reit- wie auch als Wagenpferd dienen sollte; und Graditz wurde Vollblutgestüt.

Dahinter stand die Erkenntnis des gräflichen Pferdemannes, dass Englische Vollblüter als Rasse so homogen sind, dass sie ihre Eigenschaften – darunter die positiven wie unbedingter Leistungswille, Härte und Adel – auch dann weiterverarbeiten, wenn sie auf einen Partner treffen, der nicht ihrer Rasse angehört. Damit sind sie die idealen Veredler für die Reitpferdezucht. 

Wenn man nun bei der Partnerwahl für eine solche Kreuzung noch darauf achtet, dass der Warmblut-Partner „charakterfest“ ist, also ausgeglichen und ruhig, ist davon auszugehen, dass die Nervigkeit und das heftige Temperament des Blüters ausgeglichen werden.

Nun waren aber Vollblüter auch schon damals sehr teuer, und darum befand Lehndorff, dass sie ihr Geld doch selbst verdienen könnten. Er schickte die zweijährigen Pferde auf die Rennbahn – Leistungsprüfung und Werbung fürs Gestüt in einem. Tatsächlich waren die Jockeys in der schwarz-weiß gestreiften Rennkleidung des Graditzer Gestüts durchaus erfolgreich.

Der ganz große Erfolg kam aber erst im Sommer 1913 unter Lehndorffs Nachfolger. Der kaufte in Irland den Vollbluthengst Dark Ronald – und zahlte dafür die schwindelerregende Summe von 25000 Pfund, was heute ungefähr 2,4 Millionen Euro entspräche. Der dunkelbraune Neu-Graditzer schlug ein wie eine Bombe. Seine Söhne und Enkel beherrschten zwischen den beiden Weltkriegen nicht nur die deutschen, sondern die Rennbahnen in ganz Europa. Dark Ronald war zwischen 1918 und 1922 fünfmal Champion der Vaterpferde in Deutschland. Seine Wirkung schlägt durch bis heute. Es gibt fast kein erfolgreiches in Deutschland gezüchtetes Rennpferd, das den Dark Ronald nicht mindestens einmal im Stammbaum hat.

Doch die Rennpferdezucht war in Graditz immer nur Mittel zum Zweck, nämlich der Veredelung in der Warmblut-Zucht. Dabei ist der Vollblut-Einsatz bei Reitpferden immer eine heikle Sache. Mancher Hengst, der auf der Rennbahn sehr erfolgreich war und sehr gute Vollblut-Fohlen macht, funktioniert nicht mit Warmblut-Stuten. 

Bei Dark Ronald war das kein Problem. Dazu war er selbst ein gelassener, nervenstarker Hengst, und er gab das weiter. Seine Kinder waren gescheit und sensibel, aber nicht durchgeknallt und für Menschen immer gut zu handhaben. Dazu erbten sie seine Eleganz, sein Stehvermögen und sein Herz. Sie machten immer mit, sie konnten springen und hatten gute Gänge – genau das, was man von einem Halbblüter will. Und obwohl sie selbst Hybriden waren, was in der Zucht manchmal kritisch ist, vererbten sie sich gut 

– und das übrigens in hoher Zahl. Sie haben nämlich ihre Spuren nicht nur in der Trakehner-, sondern in der gesamten europäischen Sportpferdezucht hinterlassen. Dafür stehen zum Beispiel die Herren Cor de la Bryére und Furioso II, die Stammväter des Holsteiner Springerfolges und Gründerhengste sind. Noch heute ist kein internationales Springen ohne Nachfahren von ihnen denkbar. Mit diesen Pferden springt auch immer die DNA von Dark Ronald, der über seinen Vollblutsohn Son-in-law in beiden Stammbäumen vertreten ist. 

Die Dark-Ronald-DNA wird in der europäischen Sportpferdezucht, aber auch in Dressurlinien erhalten bleiben. Eine davon ist die des „Wunderhengstes“ Totilas, der unter seinem Ausbilder Edward Gal bezaubert hat. In Totilas’ Stammbaum steht Dark Ronald sowohl auf der Mutter- wie auch auf der Vaterseite. 

Eigentlich ist es erstaunlich, wie sehr Dark Ronald die europäische Sportpferdezucht beeinflusst hat, denn Graditz verlor zum Ende des Zweiten Weltkrieges praktisch seinen ganzen Pferdebestand. Die Russen schlugen zu und nahmen alles mit, was laufen konnte. 

Zu DDR-Zeiten wurde in Graditz eher halbherzig weitergezüchtet. Man versuchte es immer noch mit Vollblütern, schickte die auch auf die Rennbahn, aber allzu viel Engagement stand im Arbeiter- und Bauernstaat nicht dahinter. Und so wurde nach der sogenannten Wende die Graditzer Vollblut-zucht privatisiert und das Gestüt kam zum Bundesland Sachsen, wo es neben dem Landgestüt Moritzburg heute Hauptgestüt unter Verwaltung des Sächsischen Staatsministeriums für Umwelt und Landwirtschaft ist.