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16.03.18 / Wie der IS einen Genozid an Jesiden verübt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-18 vom 16. März 2018

Wie der IS einen Genozid an Jesiden verübt
D. Jestrzemski

Als Mitte August 2014 zum ersten Mal im Fernsehen Filmaufnahmen von verschleppten jesidischen Frauen gezeigt wurden, die als Sklavinnen an IS-Kämpfer verkauft wurden, lösten die makabren Szenen weltweit Entsetzen aus. Nadja Murad aus dem Dorf Kocho im Nordwes-ten des Irak war eine von 7000 Jesidinnen, die der Islamische Staat verschleppt, versklavt, gedemütigt und misshandelt hat. Nach drei Monaten gelang ihr in Mossul die Flucht vor ihren Peinigern. Aus einem irakischen Flüchtlingslager wurde sie Ende 2015 im Rahmen eines Sonderkontingents von insgesamt 1100 schutzbedürftigen Frauen und Kindern nach Baden-Württemberg geholt, wo sie Asyl erhielt. 

Die heute 24-Jährige mochte sich nicht wie die anderen traumatisierten Frauen aus Scham und Furcht in die Anonymität zurück-ziehen. Sie trat an die Öffentlichkeit, um über die schweren Menschenrechtsverbrechen der Terrormiliz an ihrem Volk zu berichten und zu helfen, das Martyrium von Tausenden anderen Jesidinnen zu beenden. In Zusammenarbeit mit der Journalistin Jenna Krajeski entstand ihr Buch mit dem Titel „Ich bin eure Stimme“. Die aufwühlende Chronik beleuchtet den Genozid des IS am Volk der Jesiden und liefert darüber hinaus eine Übersicht zur geopolitischen Lage im Irak, wo der Krieg der Amerikaner gegen das Regime von Saddam Hussein einen Bürgerkrieg entfesselte. Es beginnt mit einer warmen, wehmütigen Schilderung ihres früheren Lebens in der Geborgenheit der Großfamilie. Nadja hatte zwölf Geschwister und mehrere Halbgeschwister. Mühsam ernährten sie sich von der Landwirtschaft. Bis zum 14. August 2014. An diesem Tag löschten IS-Kämpfer das Dorf Kocho aus. 

Nadja bekennt sich zur jesidischen Religion, erklärt deren Ursprung und Gebräuche. Sie betont, die Jesiden seien eine friedfertige Gemeinschaft. Da sie keine heilige Schrift kennen und auch Engel anbeten, sind sie aus Sicht des IS und streng gläubiger Sunniten Ungläubige, die den Tod verdienen. 

Bereits während des Irakkriegs wurden die jesidischen Dörfer von Terroranschlägen heimgesucht. Noch bis zum Frühjahr 2014 schützten kurdische Peschmerga-Milizen die Gebiete südlich des Sindschar-Gebirges und damit auch die jesidischen Ortschaften vor dem IS. Dann aber waren sie plötzlich verschwunden. Die Bewohner von Kocho blieben in ihrem Dorf zurück, da die Kurden keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen wollten. IS-Milizen besetzten die verlassenen Militärposten. Sie töteten die Älteren, verschleppten die Mädchen und jüngeren Frauen mitsamt ihren kleinen Kindern. Jungen wurden entführt, um sie zu IS-Kämpfern auszubilden. Nadja verlor an diesem Tag ihre Mutter und sechs ihrer Brüder. Sie fiel in die Hände von Männern, die sie wie Kriegsbeute behandelten, sie immer wieder vergewaltigten und schlugen, auch nachdem sie in ihrer Zwangslage zum Islam konvertiert war.  

Nadjas Flucht begann unter abenteuerlichen Umständen in Mossul und endete in Erbil auf kurdischem Territorium. Eine muslimische Familie half ihr und riskierte für sie ihr Leben. Andere Jesidinnen, die zu fliehen wagten, hatten weniger Glück. Viele Familien in Mossul hielten zum IS, schickten hilfesuchende Frauen weg oder verkauften sie als Sklavinnen. 

Warum sympathisierten so viele Menschen im Irak mit dem IS? Diese Frage beschäftigt Nadja bis heute. In den Irak würde sie nur zurückkehren, wenn sich die Lage dort völlig beruhigt hat. Das aber scheint derzeit angesichts der Zersplitterung des Landes in viele, teils gewaltbereite rivalisierende Gruppen kaum im Bereich des Möglichen zu liegen. 

Von den Vereinten Nationen wurde Nadja 2016 zur „Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel“ ernannt. Sie kämpft weiter dafür, dass die Ermordung Tausender Angehöriger ihres Volkes als Genozid anerkannt wird. Mit Unterstützung der prominenten Menschenrechtsanwältin Amal Clooney hat sie kürzlich erreicht, dass der UN-Sicherheitsrat eine Ermittlungsgruppe einsetzen will, die Beweise für die vom IS begangenen Verbrechen zusammentragen soll. Clooney schrieb das Vorwort für dieses Buch.

Nadja Murad: „Ich bin eure Stimme. Das Mädchen, das dem Islamischen Staat entkam und gegen Gewalt und Versklavung kämpft“, Knaur Verlag, München 2017, gebunden, 363 Seiten, 19,99 Euro