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23.03.18 / Strikt zurückzuweisen / Die polnischen Reparationsforderungen aus völkerrechtlicher Sicht: Keinerlei Rechtsgrund für heutige Forderungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-18 vom 23. März 2018

Strikt zurückzuweisen
Die polnischen Reparationsforderungen aus völkerrechtlicher Sicht: Keinerlei Rechtsgrund für heutige Forderungen
Gerd Seidel

Die von der polnischen Regierung gegenüber Deutschland öffentlich erhobenen Reparationsforderungen in Höhe von 840 Milliarden Euro haben hierzulande unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Mehrheitlich schwanken sie zwischen Empörung und Kopfschütteln. Verständnis gibt es dafür kaum. In Polen dagegen findet diese Forderung gemäß einer Umfrage die Zustimmung einer Mehrheit von über 60 Prozent der Bevölkerung. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob und gegebenenfalls welche Rechtsgrundlagen für diese Forderungen in Frage kommen könnten. Daran sollen sich einige politische Überlegungen anschließen, die aus dem Ergebnis der rechtlichen Analyse abgeleitet werden können.

Die polnische Regierung führt an, dass ihr Anspruch auf Reparationsleistungen aus dem Zweiten Weltkrieg herzuleiten sei. Am 1. September 1939 habe Deutschland Polen rechtswidrig überfallen und große Teile des Landes bis 1945 besetzt gehalten. Während der Besatzung sei es zu Kriegsverbrechen größeren Ausmaßes, insbesondere an der Zivilbevölkerung gekommen.

Das erste hier zu hinterfragende Dokument ist das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945, das gewissermaßen die Funktion eines Vorfriedensvertrages einnahm. In dessen Abschnitt IV, der die „Reparationen aus Deutschland“ regelte, heißt es unter Ziffer 2: „Die UdSSR wird die Reparationsansprüche Polens aus ihrem eigenen Anteil an Reparationen befriedigen.“ Diese Bestimmung stellt klar, dass sich Polen bezüglich der Reparationen an die UdSSR, nicht an Deutschland, zu wenden hatte und hat.

Die Reparationsansprüche der UdSSR sollten ihrerseits gemäß Ziffer 1 „durch Entnahmen aus der von der UdSSR besetzten Zone in Deutschland und durch angemessene deutsche Auslandsguthaben befriedigt werden“. In Ergänzung dazu war in Ziffer 4 vorgesehen, dass die UdSSR als von den Kriegslasten am meisten betroffene Macht überdies industrielle Ausrüstungen aus den westlichen Besatzungszonen erhalten sollte, wozu es aber wegen des schon bald beginnenden Kalten Krieges nicht kam.

Am 22. August 1953 schloss die Sowjetunion in Abstimmung mit Polen eine Vereinbarung mit der DDR, in der die vollständige Beendigung der Entnahme von Reparationen aus der DDR mit Wirkung vom 1. Januar 1954 verkündet wurde. Ab diesem Zeitpunkt sei die DDR von der Zahlung der „noch verbleibenden Reparationsverpflichtungen befreit“. Dabei wurde in dieser Vereinbarung davon ausgegangen, dass „Deutschland schon einen bedeutenden Teil seiner finanziellen und wirtschaftlichen Verpflichtungen“ erfüllt habe. Der Verzicht auf weitere Reparationen bezog sich mithin nicht nur auf die DDR, sondern auf Deutschland als Ganzes. Obwohl die Sowjetunion diese Erklärung auch im Namen Polens abgegeben hatte und eine zusätzliche Mitteilung Polens eigentlich überflüssig gewesen wäre, bekräftigte die Regierung Polens am 24. August 1953 diese Feststellung der UdSSR noch einmal ausdrücklich in einer eigenen Proklamation.

Nach dieser für Polen völkerrechtlich verbindlichen Verzichtserklärung hätte die polnische Regierung im Laufe der Jahrzehnte viele Gelegenheiten gehabt, etwaige Ansprüche gegenüber Deutschland aus dem Zweiten Weltkrieg anzumelden. Dies geschah jedoch nicht, auch nicht anlässlich der Verhandlung oder des Abschlusses völkerrechtlicher Verträge, in denen grundsätzliche Fragen der bilateralen Beziehungen geregelt wurden. Dazu zählen insbesondere der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezember 1970, der Vertrag zwischen Deutschland und Polen über die Bestätigung der Oder-Neiße-Grenze vom 14. November 1990 und der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991.

Gerade der letztgenannte Vertrag gilt als Eckpunkt für die Neugestaltung der bilateralen Beziehungen. Wenngleich er Vermögensfragen nicht ausdrücklich behandelt, so gründete Deutschland doch in diesem Zusammenhang einen freiwilligen Fonds für die Entschädigung polnischer Opfer des Nationalsozialismus. Darüber hinaus wurde eine deutsch-polnische Stiftung zur Aussöhnung ins Leben gerufen. Dafür stellte die Bundesrepublik – ohne Anerkennung einer Rechtspflicht – mehrfach Beträge in Millionenhöhe für Opfer des NS-Regimes zur Verfügung. Nur am Rande sei erwähnt, dass sich Deutschland später mit Nachdruck für die Mitgliedschaft Polens in der EU eingesetzt und als größter Nettozahler ganz wesentlich die Summen mit aufgebracht hat, die Polen als größter Beihilfeempfänger aus den EU-Töpfen seither erhalten hat.

Eine wichtige Zäsur trat schließlich mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990 ein. Es besteht weitgehend Einigkeit darin, dass dieser Vertrag die Rolle eines Ersatzfriedensvertrages einnimmt, zumal die völkerrechtliche Praxis seit vielen Jahrzehnten davon ausgeht, dass militärische Konflikte nicht mehr zwingend mit einem formellen Friedensvertrag beendet werden müssen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag macht bereits in seinem Titel deutlich, dass er eine „abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ darstellt, das heißt, alle bis dahin aus dem Zweiten Weltkrieg noch offenen Fragen zwischen den Teilnehmerstaaten endgültig regelt. Als Hauptverantwortliche der „Antihitlerkoalition“ waren die vier alliierten Großmächte zu dieser abschließenden Regelung ermächtigt, wie beispielsweise auch Artikel 107 der UN-Charta zu entnehmen ist. Polen war zwar nicht Vertragspartner, genoss aber das Privileg, während der Vertragsverhandlungen gehört zu werden. Indes trug der polnische Vertreter auch bei dieser Gelegenheit keine Reparationswünsche seines Landes vor. In der Charta von Paris für ein neues Europa vom 21. November 1990 nahmen die Unterzeichnerstaaten, darunter Polen, den Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages „mit großer Genugtuung zur Kenntnis“.

Damit wird deutlich, dass es für die derzeitigen polnischen Reparationsforderungen keinerlei Rechtsgrund gibt. Vielmehr hat Polen die Geltendmachung derartiger Ansprüche dadurch verwirkt, dass es 1953 einen ausdrücklichen Verzicht auf weitere Reparationen gegenüber Deutschland ausgesprochen und seither bis 2017 deutlich zu erkennen gegeben hat, dass es derartige Forderungen nicht zu erheben gedenkt. Nach dem völkerrechtlichen Estoppel-Prinzip ist der nunmehr aufgetretene Gesinnungswandel in Gestalt der plötzlich von Polen vorgebrachten Reparationsforderungen rechtlich irrelevant, das heißt, das polnische Vorgehen ist vom Völkerrecht nicht gedeckt und hat keine Aussicht auf Erfolg.

Auch von Einzelpersonen erhobene individuelle Schadensersatzansprüche für Kriegsschäden finden im geltenden Völkerrecht keine Grundlage. Das haben von Griechenland und Italien gegen Deutschland angestrengte Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vor dem Internationalen Gerichtshof bestätigt. Beide Gerichte hatten derartige Ansprüche in den Jahren 2002 beziehungsweise 2012 als unbegründet zurück­gewiesen.

Aus diesem rechtlichen Befund ergeben sich einige politische Schlussfolgerungen:

1. Mit der Reparationsforderung über 840 Milliarden Euro rührt die polnische Regierung an der europäischen Sicherheitsarchitektur, die im Ergebnis jahrelanger Verhandlungen im KSZE- beziehungsweise OSZE-Format sowie auf bi- und multilateraler Ebene mühsam erarbeitet wurde und für Europa Frieden und Stabilität gebracht hat. Das sind unschätzbar hohe Werte, die vor allem auch in den Verträgen über die gegenseitige Anerkennung der Grenzen sowie im Zwei-plus-Vier-Vertrag ihren Niederschlag gefunden haben. Alle diese Dokumente bilden ein zusammenhängendes Paket. Wenn Polen nun versucht, um etwaiger eigener finanzieller Vorteile willen das Paket einseitig aufzuschnüren und einen Teil davon zu Neuverhandlungen aufzulegen, so ist nicht auszuschließen, dass damit jene Kräfte in Deutschland auf den Plan gerufen werden, denen der Verlust eines Viertels des Territoriums im Osten Deutschlands im Jahr 1945 und damit die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sehr schwer gefallen ist. Polen beginnt also mit seinen ungerechtfertigten Forderungen, die Errungenschaften der europäischen Sicherheit rückabzuwickeln. Darüber hinaus zerstört die polnische Regierung damit das gegen viele Widerstände aufgebaute Vertrauen, indem sie den eigenen verbindlichen Verzicht auf weitere Reparationszahlungen aus dem Jahre 1953 im Jahre 2017 faktisch für ungültig erklärt.

2. Polen war und ist ein schwieriger Nachbar und ein oft schwer berechenbarer Bündnispartner. Die Ursache dafür liegt wohl vor allem in der besonders ausgeprägten Tradition einer betont nationalen beziehungsweise nationalistischen Politik, die zwar Solidarität von anderen Partnern einfordert, ihnen aber dieselbe nicht in gleicher Weise zu geben bereit ist.

Deutschland und Polen sind zwar beide Mitgliedstaaten von EU und NATO und haben insofern in Grundfragen gemeinsame Interessen. Zugleich aber gibt es Interessenunterschiede, die nicht geleugnet werden können, beispielsweise im Verhältnis zu Russland. Gewiss durch eigene Erfahrungen gespeist, steht Polen prinzipiell in Frontstellung zu Russland und hat sich – fest an der Seite der USA – für die Stationierung von NATO-Truppen an der Grenze zu Russland stark gemacht. Es ist zugleich entschieden für EU-Sanktionen gegen Russland eingetreten. Deutschland hingegen hat andere geschichtliche Erfahrungen in den Beziehungen zu Russland gemacht und sollte dies auch nachdrücklicher als bisher zur Geltung bringen. So ist es schwer nachzuvollziehen, dass sich Deutschland, das Russland 1941 angegriffen und dort einen Krieg geführt hat, in dem 25 Millionen Russen ihr Leben gelassen haben, heute an der Seite anderer NATO-Einheiten mit Soldaten wieder an der Grenze zu Russland militärisch präsent ist. Auch wenn dies aus Solidarität mit Polen und den baltischen Staaten geschehen sollte, so ist dies doch unsensibel und geschichtsvergessen.

Aber auch mit der Teilnahme an den wirtschaftlichen Sanktionen der EU gegenüber Russland tut sich Deutschland keinen Gefallen, nicht zuletzt deshalb, weil dadurch der deutschen Wirtschaft großer Schaden zugefügt wird. In beiden Fällen wäre eine stärkere Berücksichtigung deutscher Inter­essen vonnöten. Eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland wäre ohne die Preisgabe von Prinzipien beispielsweise dadurch möglich, dass künftig in Verträgen über die Zusammenarbeit mit Russland der eigene Rechtsstandpunkt zur völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und gegebenenfalls zu  jenen die Ostukraine betreffenden Fragen ausdrücklich fixiert wird.

3. Dass Polen gemäß einer Mitteilung des stellvertretenden Justizministers derzeit auch die Geltendmachung von Reparationsforderungen gegenüber Russ­land prüft, ist symptomatisch für die nationalistische Ausrichtung der Politik der polnischen Regierung. Sie versucht damit offensichtlich, die in innenpolitischen Fragen tief gespaltene polnische Gesellschaft auf einem nachbarschaftsfeindlich-nationalistischen Pfad wieder zusammenzuführen. Dies scheint – wie die schon erwähnte Umfrage zeigt – zumindest in Teilen zu gelingen. Allerdings ist das Entfachen derartiger Emotionen ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, umso mehr, als Polen nun fast zeitgleich zwei seiner Nachbarländer herausfordert. Damit werden nicht nur die bilateralen Beziehungen, sondern auch die Stützmauern der europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit beschädigt. Deutschland sollte indes unbeirrt die Bemühungen um eine gute Nachbarschaft mit Polen fortsetzen, zugleich aber dabei die eigenen Interessen wahren und ungerechtfertigte polnische Forderungen wie die nach Erbringung von Reparationsleistungen strikt zurückweisen.

Der Verfasser war bis 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Erstveröffentlichung des Textes in: WeltTrends – Das außenpolitische Journal Nr. 134 (Dezember 2017).