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23.03.18 / Wissende erkennen mehr / Besuch einer Aufführung von „Wolfskinder“ in der Neuköllner Oper in Berlin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-18 vom 23. März 2018

Wissende erkennen mehr
Besuch einer Aufführung von „Wolfskinder“ in der Neuköllner Oper in Berlin

Hanneloren Neumann und Gerhard Schröder mussten einst selbst als Hungerkinder im Ostpreußen der Jahre 1945 bis 1947 leben und überleben. Kann eine Theateraufführung ihr Schicksal und das Tausender anderer, die ähnliches erleiden mussten, angemessen darstellen? Sie besuchten in der Neuköllner Oper in Berlin eine Aufführung von „Wolfskinder – Musiktheater für Erwachsene nach Humperdincks Hänsel und Gretel“.

Am 17. Februar fuhren wir in der Frühe  mit dem Sprinter von Frankfurt nach Berlin. Am Abend dann die Veranstaltung in der Neuköllner Oper: „Wolfskinder“. Unsere Spannung war nicht zu unterdrücken, von Stunde zu Stunde wuchs die Neugierde. Nach zwei geradezu euphorischen Rezensionen in der Berliner Presse waren sämtliche Vorstellungen bereits ausverkauft. Umso dankbarer, überrascht und erfreut übernahmen wir die bereits hinterlegten Karten an der Abendkasse.

Aus dem Programmheft geht hervor, wie die Regisseurin,  Ulrike Schwab und die Dramaturgin,  Marion Meyer, eine Verbindung der Oper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck mit dem Schicksal der Wolfskinder gefunden haben. Des Weiteren kann der Leser des  Programmheftes durch den Beitrag „Erinnerungseinsamkeit“ des Historikers Christopher Spatz, eine leise Ahnung um die große Tragik und die lebenslangen seelischen Belastungen der ostpreußischen Hungerkinder erhalten. Wissende erkennen mehr. Spatz hat diese so erschreckenden Schicksale in seinem Buch „Nur der Himmel blieb derselbe“ dargestellt. Zeitzeugen haben ihm unter anderen erzählt, „Hunger ist die schlimmste Erfahrung des Lebens“. Wie fühlt sich dieser permanente Hunger an? Wir wissen es! Der Zuschauer sollte im Vorfeld mit der Thematik vertraut sein, zumindest sich die Zeit nehmen, das hervorragende Programmheft  zu lesen, um die Details der jeweiligen Szenen in der ganzen Tiefe der Tragik zu erkennen. 

Einzelne Passagen aus den Erlebnisberichten ostpreußischer Waisen- und Hungerkinder wurden wörtlich wiedergegeben, andere szenisch dargestellt (Beispiel: Wer bist du, wie alt bist du, wann möchtest du Geburtstag haben …..  heute). Das haut den wissenden Zuschauer regelrecht um.

Die vermutlich vom Roten Kreuz aufgezeichneten Stimmen der Kinder, die ihre Familien und Verwandten nach der Deportation ab Herbst 1947 über den Kindersuchdienst suchten, wurden durch Lautsprecher übertragen und szenenhaft begleitet. Für uns Betroffene herzzerreißend und sehr, sehr bewegend.

Durch das ganze Stück wurden die bekannten Lieder aus Hänsel und Gretel (zum Beispiel „Abendsegen“) eingeflochten. Für den Außenstehenden nicht vorstellbar, aber es passte alles irgendwie zusammen. Ein Musiktheater-Kunstwerk der besonderen Art. Überrascht hat uns die Bühne, die sich mitten im Raum befindet und vollkommen mit einem durchsichtigen Netz eingehüllt war. Die Zuschauer saßen jeweils rechts und links, also zu beiden Seiten der Bühne, hatten aber keinen Blickkontakt miteinander.

Wir bewundern das Team – die Regisseurin Ulrike Schwab, die Dramaturgin Marion Meyer, Markus Syperek, musikalische Leitung und Rebekka Dornhege Reyes, Bühnenbild. Die Verbindung der Oper Hänsel und Gretel mit dem Schicksal der ostpreußischen Hungerkinder ist ihnen  hervorragend gelungen. 

Es ist uns aber auch bewusst geworden, wie schwer es in der heutigen Zeit ist, „den satten Menschen“ das schreckliche Schicksal dieser Kinder nahe zu bringen. Sie waren dem permanenten Hunger ausgesetzt, hatten den Tod ihrer Mütter und Geschwister ertragen müssen, um nicht zu verhungern verließen sie ihre Heimat und gaben ihre Identität auf.

Den sieben Darstellerinnen sprechen wir unsere Hochachtung für ihre großartigen Leistungen aus. Jede von ihnen konnte die musikalische, gesangliche,  tänzerische Ausbildung zeigen, setzte sich im Team ein und war zudem in die Veränderung des Bühnenbildes eingebunden. Das war 90 Minuten konzentrierter Einsatz, hervorragend spielerisch dargestellt.  

Dankend möchten wir erwähnen, dass das Leitungsteam der Neuköllner Oper Berlin sich diesem weitestgehend unbekannten Kinder-Schicksal deutscher Nachkriegsgeschichte angenommen hat. Eine Wiederaufnahme der Inszenierung in den Spielplan der Neuköllner Oper ist bereits ab August 2018 vorgesehen. Für interessierte Leser fügen wir hier die Kontaktdaten ein: Neuköllner Oper, Karl-Marx-Straße 131-133, 12043 Berlin, Telefon (030) 68890777, www.neukoellneroper.de/play/wolfskinder/.

Es wäre wünschenswert, dass diese Oper, aufbauend auf den großen Erfolg in Berlin, auch auf anderen Bühnen gezeigt wird.

Die beiden Autoren Hannelore Neumann und Gerhard Schröder wurden nach dem Tod der Mütter und Geschwister als Waisenhauskinder Ende 1947 in die Sowjetische Besatzungszone ausgewiesen. Gerhard Schröder (82) hat seine Verwandten über den Kindersuchdienst (Radio) gefunden. Heute lebt er in Mühltal, nähe Darmstadt, leitet seit 27 Jahren die Kreisgruppe der Ost- und Westpreußen in Darmstadt und ist stellvertretender Landesvorsitzender der LOW Hessen.