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30.03.18 / Ein schönes Stück deutsches Erbe / Eine Reise durch das Baltikum bringt angenehme Überraschungen – Der Begriff Heimat ist hier alles andere als eine Worthülse

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 13-18 vom 30. März 2018

Ein schönes Stück deutsches Erbe
Eine Reise durch das Baltikum bringt angenehme Überraschungen – Der Begriff Heimat ist hier alles andere als eine Worthülse
Stefan Michels

Die sozialistische Tristesse ist langsam beseitigt. Die baltischen Länder nähern sich immer mehr Westniveau an. Auch bei den Preisen – und Bußgeldern.

Die Urlaubsfreude wird für viele, die mit dem Auto nach Estland einreisen, kurz hinter der Grenze jäh gebremst. Minutenlang verschwindet der Fahrer mit dem Grenzbeamten hinter dem Wagen, um zu verhandeln. Vorm geistigen Auge sehen die im Auto verbliebenen Familienmitglieder das Bußgeld in astronomische Höhen wachsen. Von Litauen kommend fahren die Fremden aus dem Westen oft mit Karacho über die Landesgrenze. „Grenze“, das bedeutet ein einsames Schild in einer menschenleeren Landschaft, das leicht zu übersehen ist. Jetzt schnappt die Touristenfalle zu, und der Grenzer, der heimlich aufgelauert hat, will Bares sehen.

Das gesamte Baltikum gehört zum Schengener Raum und zur Euro-Zone. Für Touristen empfiehlt sich ein Gabelflug nach Wilna und Reval. Die Strecke dazwischen deckt die meisten Sehenswürdigkeiten ab und kann bequem mit einem Mietwagen bewältigt werden. Den Touristen reichen meist zehn Tage ohne große Hetze. Das Preisniveau ist europäisch, also hoch im Vergleich zum lokalen Durchschnittseinkommen.

Alle drei baltischen Hauptstädte verfügen über ein großes und sehenswertes Altstadtzentrum. Erstaunliches wurde vollbracht, die sozialistische Tristesse aus dem Stadtbild zu verbannen und die historische Bausubstanz wieder instandzusetzen. Besonders herausgeputzt wirken die alten Hansehäfen Riga und Reval. Wilna sieht man seine traditionelle Hinterlandrolle dagegen immer noch an. In punkto Restaurationsbemühungen und touristischer Entwicklung hinkt die litauische Kapitale um einige Jahre hinterher, wirkt aber gerade durch ihre ungekünstelte Ost-Rustikalität sympathisch.

Schon allein durch seine Größe nimmt Riga eine Sonderstellung ein. Jeder zweite Lette lebt in der Millionenstadt. An Sonnabenden gerät das quicklebendige Zentrum abends zu einem Schaulaufen langer Damenbeine und aufgekrempelter Hemdsärmel. Wie überall wirken die Passanten schlanker und drahtiger als bei uns, ein Eindruck, der sich an­derntags bei einem Besuch von Riga-Strand (Jurmala) verfestigt.

Stärker als anderswo ist Russisch auf der Straße zu vernehmen. Die Stadt galt zur Zarenzeit als das Tor zum Westen und war in der Spätphase eine der größten im gesamten Reich. Zahlreiche imposante Jugendstilbauten zeugen noch von dem wirtschaftlichen Aufschwung dieser Epoche. Vielleicht spiegelt nichts das gegenwärtige Verhältnis der Balten zu ihrer Geschichte treffender wider als das krass gegensätzliche Ensemble am Rathausplatz. Auf der einen Seite das schon äußerlich abstoßende „Museum der Besetzung von Lettland 1940–1991“ – ein an Direktheit kaum zu übertreffendes, vernichtendes Urteil über die Sowjetzeit. Direkt daneben das liebevoll rekonstruierte Schwarzhäupterhaus der deutschen Bürgerschaft aus der Hansezeit. 

Aufschlussreich ist auch der Blick auf die vielen Denkmaltafeln, die an historischen Häusern angebracht wurden. Fast ausschließlich handelt es sich bei den ehemaligen Bewohnern um Deutsch-Balten, die in Verwaltung, Wissenschaft, Kunst und Kultur bis fast zum Schluss tonangebend waren. Bei aller Freude über dieses unerwartete Bekenntnis zum deutschen Erbe darf man den realpolitischen Zweck nicht übersehen. Es geht den Balten mit ihrer Geschichtspflege zweifels­ohne auch darum, latente russische Ansprüche abzuwehren.

Reval bietet sicherlich das malerischste Ambiente. Der Stadtkern ist noch von einer mittelalterlichen Mauer umgeben. Abends flanieren die Touristen entspannt durch die Gassen. Durch Zufall geraten wir in eine kleine Demo gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die gerade zu Besuch weilt. Die Schilder und Transparente verraten eine Hellsichtigkeit, die dem selbsterklärten „Helldeutschland“ abgeht. Dessen Sehnsucht nach Entheimatung scheint man hier nicht zu teilen: Alle drei Länder besitzen noch eine völlig intakte europäische Bevölkerungsstruktur. Nur in Riga zeigen sich erste Spuren der rezenten Masseneinwanderung. Ein Tagesausflug mit der Fähre nach Helsinki sorgt für den Kontrapunkt. Die finnische Hauptstadt ist arm an Sehenswürdigkeiten, aber umso reicher an Drittweltimmigranten.

Die Wagenflotte der Balten ist durchgängig post-sowjetischer Herkunft, die einheimische Fahrweise recht diszipliniert. Abseits der Städte ist das Verkehrsaufkommen vergleichsweise gering. Damit es dennoch nicht langweilig wird, warten die Überlandstraßen mit allerlei Überraschungen auf wie U-Wenden, Bushaltestellen, Radfahrern, Fußgängern und eben Blitzern. Hindernis- und kreuzungsfreie Autobahnen gibt es nur wenige. 

Auch in der Provinz ist man sichtlich bemüht, an die vorkommunistischen Wurzeln anzuknüpfen. Die imposante Wasserburg Traken und die Ordensfeste Treyden wurden so stark restauriert, dass man schon fast von Neubauten sprechen muss. Das Sommerhaus des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann in Nidden, das in einer Traumlage über dem Kurischen Haff thront, hinterlässt einen gepflegten Eindruck. Eine besondere Religiosität, der Dreh- und Angelpunkt jedes authentischen Traditionsbewusstseins, ist unter den Balten jedoch nicht erkennbar. Die einzige, allerdings umso eindrucksvollere Ausnahme bildet der stark frequentierte „Berg der Kreuze“, ein Monument der katholischen Widerständigkeit der Litauer. 

Der baltische Naturraum zeichnet sich durch eine abwechslungsreiche Mischung von Wäldern, Fluren und Wiesen aus. Das Land hat insbesondere in Litauen flachen Charakter. Die Landwirtschaft wird auffällig extensiv betrieben. Höhepunkt ist eine Fahrt über die renaturierte Kurische Nehrung. Von der riesigen Düne in Nidden blicken wir weit über die Grenze ins Königsberger Gebiet. Anzeichen menschlichen Lebens sind nicht auszumachen. Auch am nahen Grenzübergang herrscht kaum Betrieb. In Memel wird das kleine historische Zentrum von der sozialistischen Neustadt beinahe verschluckt.

Und was wurde aus dem anfangs erwähnten Rapport bei der estnischen Autobahnpolizei? Der Fahrer hat sich solange dumm gestellt, bis der Polizist genervt aufgab. Ein Schengenopfer weniger.