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06.04.18 / Passion für eine mittlerweile untergegangene Welt: Andrzej Stasiuks Reisen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 14-18 vom 06. April 2018

Passion für eine mittlerweile untergegangene Welt: Andrzej Stasiuks Reisen
Dirk Klose

Der 1960 in Warschau geborene Schriftsteller Andrzej Stasiuk hat sich in seiner Heimat von einem enfant terrible zum „Shooting-Star“ der literarischen Szene Polens entwickelt. Musste er noch in jungen Jahren wegen Wehrdienstverweigerung ins Gefängnis, wurde er kaum 20 Jahre später zum „Dichter des Jahres“ gekürt. Die zahlreichen Preise und Ehrungen, die er in Polen, aber mehr und mehr auch in westlichen Ländern erhielt, zeugen von der großen Wertschätzung, die er mittlerweile in Europa genießt. 

Seine Passion ist der Osten, sowohl im real-geografischen Sinne als auch symbolisch für ein Lebensgefühl und für eine Welt, die inzwischen untergegangen ist, deren Spuren aber bis heute Menschen, Mentalitäten und ganze Regionen prägen. Angefangen hat er damit in seiner polnischen Heimat, wobei ihm sein Zuhause in den Beskiden, eine gottverlassene Gegend im äußersten Südosten Polens, den besten Anschauungsunterricht lieferte. Und das setzte er fort mit ständigen Reisen in die Nachbarstaaten, so in die Slowakei, nach Ungarn, nach Weißrussland, in die Ukraine und bis hinunter nach Rumänien und Bulgarien. 

In seinem neuesten Buch, lapidar „Der Osten“ betitelt, reist er nun wirklich ganz weit nach Osten, über Europa hinaus nach Sibirien, nach Kirgistan, an die russisch-chinesische Grenze, ins Pamirgebirge, in die Wüste Gobi und in die Mongolei. 

Es sind keine Reisen mit Intourist oder anderen Reiseveranstaltern für Touristen, sondern mit ein oder zwei Begleitern (wer sie sind, erfährt man leider nicht) macht er sich mit Fahrern oder in gemieteten Autos zu abenteuerlichen Fahrten in Gebiete auf, in die kaum ein Europäer kommt und die eine Ursprünglichkeit bewahrt haben, die den Leser mitunter schaudern macht und doch zugleich fasziniert. 

Stasiuk wechselt ständig von einer realen in eine imaginäre Welt und umgekehrt. Erlebt man ihn beispielsweise auf beklemmenden Fahrten im Pamirgebirge, wo die Luft dünn wird und wo man Herzrasen bekommt, reflektiert er im nächsten Moment über die Lebensbedingungen der Menschen, deren archaische soziale Strukturen den Ansturm des Kommunismus ausgehalten haben, ohne dass man sagen könnte, den Menschen gehe es heute wieder besser. Im Gegenteil, oft genug hört er von den Einheimischen: „Früher war es besser, aber jetzt ist es auch in Ordnung.“ 

Die Unterkünfte, die heruntergekommenen Hotels, die für europäische Verhältnisse katastrophalen sanitären Verhältnisse lassen Stasiuk fragen, was kann der Mensch überhaupt aushalten, was ist ihm zumutbar, was muss ihm als Lebensminimum gelassen werden. Absurde Situationen werden schon gar nicht mehr hinterfragt, etwa wenn eine endlose Ebene durch einen Stacheldraht geteilt wird oder wenn man an einem einsamen Kontrollpunkt hinter nur drei Autos fünf Stunden wartet. 

Stasiuks Texte verlangen konzentriertes Lesen, aber ihrer suggestiven Kraft kann sich der Leser nur schwer entziehen. Der Verlag hätte das Buch mit gelegentlichen kartografischen Hinweisen etwas leserfreundlicher machen können, denn Pamir, Wüste Gobi, Ulan Bator, Aralsee, all das hat man nicht unbedingt sofort parat. Gleichwohl wird man hineingezogen in ein Abenteuer: „Es wird nie Frieden geben, weil in den Adern dieser Landstriche eine Droge steckt, die den Wahnsinn anfacht, und einem schwindlig wird von den gigantischen Ausmaßen des Raums und von der Illusion, dass man ihn beherrschen und verwandeln könne. Dschingis Khan, Tamerlan, Peter der Große, Stalin, Hitler, Kapitalismus, Globalisierung ziehen heran wie meteorologische Phänomene.“

Andrzej Stasiuk: „Der Osten“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, gebunden, 298 Seiten, 22,95 Euro