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27.04.18 / Michail Gorbatschow: Ein Visionär, der das Sowjetsystem veränderte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 17-18 vom 27. April 2018

Michail Gorbatschow: Ein Visionär, der das Sowjetsystem veränderte
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Das Buch „Gorbatschow“ beschreibt in eindrucksvoller Weise dessen Lebensweg von einem Bauernjungen in einem Dorf im Nordkaukasus bis zum ersten Mann der Sowjetunion. Nach Abschluss der Moskauer MGU-Universität ist er zwar Mitglied der KPdSU, zugleich aber voller Kritik am Re-

gime. Einst, klagt er, war die Ukraine die Kornkammer Europas, heute müsse man jährlich Millionen Tonnen Getreide in den USA einkaufen. Im Volke ist er sehr beliebt, weil er als erster Funktionär mit den Menschen persönlich und in aller Offenheit spricht. 

Unter Kossygin steigt Gorbatschow sogar zum Mitglied des Politbüros auf. Nach außen muss er die Parteilinie vertreten, innerlich bekämpft er sie. Das Angebot Andropows, Generalsekretär der KPdSU und später Vorsitzender des KGB, 1983 den Vorsitz bei Politbüro-Sitzungen zu überneh­men, nimmt er an im Glauben, den sowjetischen Sozialismus durch Reformen retten zu können. 

Gespräche mit dem US-Präsidenten bringen nicht den gewünschten Erfolg. Umso notwendiger erscheint ihm ein Kontakt zum damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. Dieser erklärt Gorbatschow deutlich, die Deutschen würden sich mit der Teilung ihres Landes nie abfinden. Am 7. Okto-ber 1989 spricht Gorbatschow bei einem Berlin-Besuch vor der DDR-Führungsspitze sein berühmtes Wort „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. 

Bedauerlicherweise übergeht der Autor die Sitzung des Politbüros vom 3. November, auf der Gorbatschow seinen Außenminister zweifelnd fragt, ob Krenz sich halten wird, da andererseits die UdSSR die DDR nicht mehr unterstützen könne und was mit der Berliner Mauer geschehen solle. Schewardnadse antwortete, „die sollen sie einreißen.“ Auf den Fall der Mauer sechs Tage später reagiert Gorbatschow: „Sie haben richtig gehandelt.“ Auf der folgenden Politbüro-Sitzung werden weder dieses noch die DDR generell erwähnt.

Zusehends fällt zudem das Sowjetreich auseinander, und auch Gorbatschow selbst beginnt zu fallen. Wohl wird er zum ersten Präsidenten seines Landes gewählt, doch die Zahl seiner Gegner wird größer. Sie fragen, wie er die Ausdehnung der NATO auf die DDR ohne Vorbedingung zulassen konnte, und warum er keine Garantie auf einen Verzicht ihrer Ausdehnung auf Osteuropa for­derte. Seinen Worten zufolge habe er eine solche erhalten, wie der Autor ausführt. Bush jedenfalls nimmt jene sofort zurück. 

Gorbatschow akzeptiert die deutsche Mitgliedschaft in der NATO, wobei er sich auf seine verlangten  „Neun Garantien“ beruft mit der Forderung, dass die NATO nicht die Sicherheit der Sowjetunion gefährden dürfe. Ist die tiefere Ursache dieses Entgegenkommens letztlich in seinem dringenden Wunsch nach notwendigen Krediten in Höhe bis zu 20 Mil-liarden US-Dollar zu sehen, um damit wieder Getreide im Ausland kaufen zu können? Kanzler Kohl sagt sofort fünf Milliarden D-Mark zu. Für die über 1990 hinausgehende Anwesenheit sowjetischer Truppen in der DDR, für deren späteren Abzug und die Wiedereingliederung in ihrer Heimat zahlt Deutschland fast 20 Milliarden 

D-Mark und die gleiche Summe nochmals für Kredite. 

Im Sommer 1991 analysiert die CIA das Ende der Ära Gorbatschow. In seiner Idee von einem modernen Marschall-Plan für sein Land hatte dieser eine Anleihe von 1,5 Milliarden US-Dollar zum erneuten Ankauf von nordamerikanischem Getreide erbeten, die Washington indes ablehnte. Im Sommer kam es zu einem Putschversuch gegen Gorbatschow, der ergebnislos blieb, der aber noch heutzutage mit überaus vielen Rätseln verbunden bleibt.  Er und Jelzin gründen die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ und beenden damit die UdSSR. Rund 70 Prozent der Bevölkerung aber leben immer noch am Rande der Armut, was als Versagen Gorbatschows gesehen wird. Im Dezember 1991 tritt er als Präsident zurück. 

Gorbatschow glaubte an den Kommunismus, er war ein Visionär, wollte das Sowjetsystem verbessern, doch konnte er seinen eigenen Erwartungen nicht gerecht werden. 

William Taubman: „Gorbatschow. Der Mann und seine Zeit“, C.H. Beck Verlag, München, 2018, gebunden, 993 Seiten, 38 Euro