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04.05.18 / Hommage an den »Befreier-Zaren« / Reformer und Modernisierer: In Moskau erinnert eine Sonderausstellung anlässlich des 200. Geburtstags an Alexander II.

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-18 vom 04. Mai 2018

Hommage an den »Befreier-Zaren«
Reformer und Modernisierer: In Moskau erinnert eine Sonderausstellung anlässlich des 200. Geburtstags an Alexander II.
Manuela Rosenthal-Kappi

Mit einer Ausstellung im Historischen Museum in Moskau ehrt Russland Alexander II., der als „Befreier-Zar“ nicht nur im eigenen Land verehrt wird, und der als tragischster Regent auf dem russischen Thron gilt. 

Am 29. April jährte sich der Geburtstag von Zar Alexander II, dem „zar oswoboditel“ (Befreier-Zar) zum 200. Mal. Das Moskauer Historische Museum widmet dem „herausragendsten Regenten Russlands“, wie es dort heißt, eine Ausstellung, die noch bis zum 15. Oktober zu sehen ist. 

Museumsdirektor Alexej Lewykin hob stolz hervor, dass Alexander II. Moskowit war. Er war der erste Imperator nach Peter I., der in der heutigen Hauptstadt geboren wurde. Und im Gegensatz zu Peter liebte er Moskau. Unter den Exponaten befinden sich neben persönlichen Dingen des Zaren Gemälde, Grafiken und Fotoporträts des Herrschers sowie Waffen und Möbel. Besonders stolz wird das Dokument über die Bauernbefreiung präsentiert mit der handschriftlichen Bemerkung des Zaren „So sei es“ vom 19. Februar 1861.

Es ist auch die Gänsefeder zu sehen, mit welcher der Kaiser das Protokoll der Staatsratssitzung unterzeichnete. Sergej Naryschkin, der Vorsitzende der Historischen Gesellschaft, betonte, dass die 25-jähirge Herrschaft Alexanders II. für Russland einen „mächtigen Ruck in allen Bereichen der Staatsbildung sowie des wirtschaftlichen und sozialen Lebens“ gebracht habe. „Er hat ein mächtiges fortschrittliches Land mit einer unbestrittenen internationalen Autorität hinterlassen, ein Land, das wirklich in die Zukunft blickt“, sagte er.

Zu den Reformen zählte Naryschkin die Justizreform, die ein unabhängiges Gericht schuf, die Reform der lokalen Selbstverwaltung (zemstwo), die radikale Modernisierung der Armee, die Reform der Schul- und Universitätsausbildung und die Abschaffung der Leibeigenschaft.

So viel zur euphorischen Ehrung des Befreier-Zaren in Russland, wo das Zarentum seit der Bestattung der letzten Romanows im Jahre 2015 eine Rehabilitation erfahren hat. Doch hält diese positive Sicht der Bedeutung Alexanders II. dem Vergleich mit der Wirklichkeit stand?

Das Schicksal Alexanders II. gilt als eines der tragischsten in der Geschichte Russlands. Der Zar, der 1861 die Leibeigenschaft der Bauern abschaffte und weitere Reformen durchführte, fiel am 13. März 1881 mitten im Zentrum von Sankt Petersburg, am Katharinen-Kanal einem Bombenattentat zum Opfer. In der Verfilmung des Ereignisses sagt er noch: „Mir ist kalt, kalt. Schnell in den Palast. Ich will dort sterben.“ Er starb in seinem Kabinett im Winterpalast an Blut­ver­lust. Sein Sohn schrieb später, Alexander II. sei anders gewesen als seine Vorgänger, weil er keine „Neigung verspürte, den König zu spielen“ und „nicht besser aussehen wollte, als er war, dabei war er oft besser, als es aussah.“

Um die Bedeutung der „Großen Reformen“ beurteilen zu können, lohnt ein Blick auf die politische und soziale Lage, wie sie sich darstellte, als Alexander II. nach dem Tod seines Vaters Alexander I. am 2. März 1855 mit knapp 37 Jahren die Regierungsgeschäfte übernahm: Die Niederlage im Krimkrieg zeichnete sich ab, der Pariser Frieden vom 30. März 1856 besiegelte die Niederlage Russlands. Sie verdeutlichte die Rückständigkeit der Russen in vielen Bereichen. 

Innenpolitisch zeichnete sich ein ideologischer Wandel ab. Einem radikalen Liberalismus, der westlich orientiert war, stand eine ständisch-konservative Richtung gegenüber. Aufstände in Polen und Litauen wegen einer rücksichtslosen Verwaltung mit Russifizierungsversuchen des gesamten öffentlichen Lebens bereiteten Alexander II. Sorgen. Zudem gab es Streit mit England um Russlands Einfluss auf die Krim und die Türkei. Lediglich Bulgarien war prorussisch. Durch die preußische Unterstützung gelang es, ein militärisches Eingreifen der anderen Großmächte zu verhindern (siehe unten). Nach dem verlorenen Krimkrieg gewann die pan-slawistische Ideologie Auftrieb: Russlands Ruhm, Ehre und Gewissen stehe auf dem Spiel, und der russische Zar könne nicht unterliegen, wenn er das Banner des Slawentums und der östlichen Christenheit hochhält, so die Logik. Doch mit Alexander II. machte die panlawistische Ideologie einer realistischeren Beurteilung Platz. Alexander II. war nicht gewillt, um ideologischer Postulate willen internationale Verwicklungen zu riskieren. 

Alexander II. strebte vielmehr danach, mit der wirtschaftlichen, technischen und militärischen Entwicklung Europas mitzuhalten. Die Motive für die Bauernbefreiung sind daher weniger ethischer Natur, als der Einsicht geschuldet, dass es besser sei, die Leibeigenschaft von oben her aufzuheben, als darauf zu warten, bis sie beginne, sich selbst von unten her abzuschaffen. 

So positiv, wie Russen es heute gerne sehen, ging die Bauernbefreiung nicht einher: Adelige, die ihre Pfründe bedroht sahen, übervorteilten die Bauern bei der Landzuteilung. Das Gesetz sah vor, dass die Bauern das Land, das sie zuvor bearbeitet hatten, käuflich erwerben mussten. Dazu gewährte der Staat Kredite mit einer Laufzeit von 49 Jahren. Zusätzlich wurden die Bauern mit Steuern für den Staat und Abgaben an die Grundherren belastet. Für diese Auflagen waren die Flächen viel zu klein. Zudem waren die Bauern in der nun gesetzlich gegründeten Institution der Dorfgemeinde (obschtschina oder mir) gebunden. Die Möglichkeit der Bauern, selbstbestimmt zu wirtschaften, blieb äußerst begrenzt. 

Zu den „Großen Reformen“ zählte auch die Justizreform. Es sollte eine Angleichung an das Vorbild des fortgeschrittenen Europas erfolgen. Russland bekannte sich zu den Prinzipien des modernen Rechtsstaates, in dem der Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz gilt. Die Finanzverwaltung wurde verbessert, indem die staatliche Haushaltsführung konsequent im Finanzministerium zentralisiert wurde. 1874 wurde die Wehrplicht eingeführt, im Bereich Bildung sollten Volksschulen (1864) und höhere Schulen (1865) an europäische Verhältnisse angepasst werden. Die Pressefreiheit wurde zwar 1865 gesetzlich eingeführt, war jedoch – wie heute – eingeschränkt. 

Überschattet wurde die Regierungszeit Alexanders II. von mehreren Attentaten. Am 4. April 1866 schoss Dmitrij Karakosow auf Alexander II., verfehlte ihn jedoch und wurde festgenommen. Nach diesem Attentat verlor der Zar sein Vertrauen in die Gesellschaft wieder, drosselte durch administrative Maßnahmen die Initiativen zur Mitbestimmung. 

Die Tragik Alexanders II. bestand darin, dass er die Autokratie nie in Frage stellte sowie liberale und reaktionäre Tendenzen nebeneinander bestehen ließ, ohne sich für eine Seite zu entscheiden. In diesem Spannungsverhältnis brachte Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Bereichen Literatur, Musik und einigen Wissenschaftsbereichen Repräsentanten von Weltgeltung hervor: Beispielhaft seien die Dichter Turgenjew, Dostojewskij, Tolstoj sowie die Komponisten Tschajkowskij und Rimskij-Korsakow genannt.





Ein Enkel Königin Luises, ein Neffe Kaiser Wilhelms I. und ein halber Preuße

Alexander II. hat nicht nur in seinem eigenen Land segensreich gewirkt. Davon zeugen die Denkmale in den Metropolen fremder Nationen, die von den dortigen Völkern immer noch in Ehren gehalten werden, ohne dass sie dazu irgendjemand zwingen müss­te. Auch die Preußen haben Alexander II. viel zu verdanken. Seine Regierungszeit war eine Hoch-Zeit der bilateralen Beziehungen. Hätte er nicht Preußen den Rücken freigehalten, wäre die deutsche Einigung kaum möglich gewesen. Zweifelsohne hat auch sein Zarenreich von dieser Harmonie profitiert. Preußen half ihm, 1863 der Rebellion der polnischen Separatisten Herr zu werden und 1871 die Ergebnisse des von seinem Land verlorenen Krimkrieges maßgeblich zu revidieren. Allerdings wird es den damaligen preußisch-russischen Beziehungen nicht geschadet haben, dass Wilhelm I. der Lieb­lings­bru­der von Alexan­ders II. Mutter war und sich diese Harmonie auf das Verhältnis von Onkel und Neffe übertragen hat.

Alexander II. war ein halber Preuße. Das gute Verhältnis zwischen Alexanders II. preußischen Großeltern mütterlicherseits, Friedrich Wilhelm III. und Luise, sowie seinem Onkel Alexander I., dem ältesten Bruder seines Vaters Nokolaus I., ist berühmt. Das hinderte Friedrich Wilhelm und Alexander I. zwar nicht daran, gegeneinander Krieg zu führen, aber die preußische Teilnahme an Napoleons Russlandfeldzug von 1812 war im Jahre 1814 schon längst Vergangenheit und überdeckt durch die Waffenbrüderschaft gegen das napoleonische Frankreich in den Befreiungskriegen. Eine engere dynastische Verbindung zwischen Hohenzollern und Romanows war also durchaus wün­schens­wert. 

1814/15 waren Alexanders I. jüngere Brüder Nikolaus und Michael auf der für junge Aristokraten damals üblichen Grand Tour durch Europa. Dabei war der Besuch Berlins im Herbst 1814 eine besonders wichtige Etappe. Nikolaus sollte nämlich die älteste Tochter des preußischen Königs, Prinzessin Charlotte, heiraten.

Charlotte war eine Mischung ihrer Eltern. Vom Vater hatte sie die Größe, Eleganz und das blonde Haar; von der Mutter Anmut, Charme und strahlend blaue Augen. Dazu war sie nicht dumm, wenn auch etwas oberflächlich. Der Großfürst war auch nicht hässlich: hochgewachsen wie sein Bruder Alexander I., dunkelblond, blauäugig mit feinen Zügen.

Charlottes Eltern hatten sich im Gegensatz zu anderen Fürstenpaaren ihrer Zeit geliebt und ihre Kinder innerhalb einer glück­lichen Familie aufgezogen. Davon träumte auch Charlotte, und sie bekam es. Als der Großfürst 1815 zum zweiten Besuch nach Preußen kam, verliebte er sich in sie. Ihre Tagebücher und die Briefe an ihre Geschwister offenbaren, dass sie seine Gefühle erwiderte und sich auf die Ehe mit ihm freute. Noch vor Nikolaus’ Abreise verlobte sich das Paar. Es dauerte aber noch zwei Jahre, bis die Formalitäten ausgehandelt waren. Charlotte reiste mit ihrem Bruder Wilhelm nach Russland, wo sie zum russisch-orthodoxen Glauben übertrat und auf den Namen Alexandra Fjordorowna getauft wurde. 

Die junge Ehe ließ sich gut an. Das Paar lebte sehr zurückgezogen auf Schloss Peterhof, verbrachte viel Zeit miteinander und erfreute sich an der wachsenden Kinderschar. Auf Alexander II. folgte im darauffolgenden Jahr mit Maria die erste Tochter. Sie war der Liebling des Vaters und daher später fähig, bei ihm ihre Liebesehe mit Maximilian de Beau­har­nais durchzusetzen, einem Enkel von Napoleons erster Ehefrau, Joséphine de Beauharnais. Nach einer Totgeburt 1820 folgte 1822 Olga, später als Ehefrau Karls I. Königin von Württemberg. Nach einer weiteren Totgeburt 1823 kam abermals zwei Jahre später mit Alexandra die letzte Tochter zur Welt. Es folgten 1827, 1831 und 1832 die drei Jungen Konstantin, Nikolaus und Michael.

Durch die vielen Geburten und das raue Klima in Russland verschlechterte sich die ohnehin angeschlagene Gesundheit der vielfachen Mutter. Zudem war sie durch den Tod ihres Schwagers Alexander I. und den Thronverzicht ihres Schwagers Konstantin als Folge einer nicht standesgemäßen Vermählung 1825 Ehefrau eines Zaren geworden. Das ruhige Leben war vorbei. 1840 wurde die Zarin von ihren Ärzten zur Erholung nach Italien geschickt, und man sagte ihr, sie solle darauf verzichten, weitere Kinder zu bekommen. Das bedeutete damals Enthaltsamkeit, was ihrer Ehe nicht bekömmlich war. Aber sie hatte das Beispiel ihrer früh verstorbenen Mutter vor Augen und hielt sich an die ärztlichen Auflagen, auch wenn das bedeutete, dass sie von da an zu akzeptieren hatte, dass ihr Mann sich eine Geliebte hielt. 

Sie betrauerte ihn dennoch sehr, als er 1855 starb. Nachdem sie Witwe geworden war, kränkelte sie noch mehr. Da war es sicher keine Entlastung, dass sie 1860 noch einmal nach Berlin fuhr, um von ihrem sterbenskranken ältesten Bruder Friedrich Wilhelm IV. Abschied zu nehmen. Jedenfalls kam sie sehr geschwächt aus der alten in ihre neue Heimat zurück und verstarb dort noch zwei Monate vor ihrem Bruder. In der Kathedrale der St. Petersburger Peter- und Paulfestung wurde sie neben ihrem Ehemann beigesetzt.Sibylle Luise Binder/PAZ