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04.05.18 / »Aus tiefer Not schrei ich zu dir!« / Erinnerungen einer ostpreußischen Schülerin an ihre Flucht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-18 vom 04. Mai 2018

»Aus tiefer Not schrei ich zu dir!«
Erinnerungen einer ostpreußischen Schülerin an ihre Flucht

Die 14-jährige ostpreußische Schülerin Hildegard Schulz, die mit ihrer 41-jährigen Mutter, ihrer 81-jährigen Großmutter und ihrer 8-jährigen Schwester mit der „Andros“ nach Swinemünde gekommen war, überlebte nur knapp den Untergang des Schiffes. Sie hat das Erlebte in ihrem Tagebuch festgehalten. Ein Auszug daraus:

Unsere Flucht aus dem von den Russen bedrohten Löwenhagen im Kreis Königsberg begann am 25. Januar 1945. Bei minus 20 Grad verließen wir mit dem letzten Zug Löwenhagen und fuhren nach Königsberg. Kaum angekommen, wurde meine Mutter während des Beschusses durch Stalinorgeln schwer verwundet. Man wies uns eine Bleibe im Keller der Ponarth-Brauerei zu, in dem wir bis Anfang März blieben. Ich versuchte in dieser Zeit, meine Mutter wieder gesund zu pflegen. Die Wochen in der von den Russen belagerten Festung waren schrecklich. Jeden Tag gab es Fliegeralarm. Die Einschläge von Artilleriegranaten erfolgten immer häufiger. Sich tagsüber nach draußen auf die Straße zu begeben, war lebensgefährlich.

In den ersten Märztagen verließen wir unser Kellerquartier in Königsberg-Ponarth. Zu viert versuchten wir, nach Pillau zu kommen, zunächst zu Fuß, das letzte Stück mit der Bahn. In Pillau standen wir dann im Hafen und suchten ein Schiff, wie Hunderte anderer Flüchtlinge. Wir hatten Glück. Schon einen Tag später, am 5. März, durften wir an Bord des Frachtdampfers „Andros“ gehen. Das Schiff war schon hoffnungslos überbelegt, trotzdem fanden wir noch einen Platz im Vorschiff. In der folgenden Nacht verließ der Frachter den Hafen von Pillau.

Wie wir hörten, sollte die „Andros“ uns Flüchtlinge nach Swinemünde bringen, dort ausladen und wieder nach Pillau zurückkehren, um weitere Flüchtlinge zu holen. Man sagte uns, die Fahrt nach Swinemünde würde nur zwei Tage dauern.

Doch bereits vor der Halbinsel Hela musste die „Andros“ ankern; der Wind hatte sich zum Sturm entwickelt und die Windstärke 10 erreicht. Der Kapitän wollte kein Risiko eingehen und wagte es nicht, mit dem mit etwa 2000 Menschen völlig überladenen Schiff die Fahrt fortzusetzen. In der Nacht gab es Fliegeralarm. Die Angreifer setzten „Christbäume“ an den Himmel, um ihre Angriffsziele besser erkennen zu können. Doch der „Andros“ passierte nichts. Wahrscheinlich lohnte sich ein Angriff auf ein so kleines Schiff nicht. Auch am nächsten Tag lagen wir noch vor der Halbinsel Hela. 

Ich war jung, neugierig und wissensdurstig und streifte bald durch das ganze Schiff, über alles hinwegsteigend, was sich mir in den Weg stellte, denn auch die schmalen Gänge waren voller Flüchtlinge und deren Gepäck. Bei einem dieser Rundgänge folgte ich einer unerklärlichen Eingebung, mit der ich zu meiner Mutter zurückkam und sagte: „Mutti, hier im Vorschiff bleibe ich nicht, ich möchte ins Mittelschiff.“ Meine Mutter wollte erst nicht, ließ sich aber schließlich doch dazu überreden. So schleppte ich dann mühselig erst unsere Oma, dann unsere letzte Habe in das Mittelschiff, wo ich uns bereits einen Platz ausgesucht hatte. 

Nach zwei Tagen lagen wir immer noch vor Hela. Erst als sich das Wetter gebessert hatte, setzte die „Andros“ ihre Fahrt fort. Häufig kam es zu Unterbrechungen durch Flieger- und U-Boot-Alarm. Doch es gab immer wieder Entwarnung, da glücklicherweise nichts geschah.

Unsere Fahrt von Pillau nach Swinemünde dauerte nicht zwei, sondern sechs Tage und Nächte. Nach dem zweiten Tag der Fahrt war die Verpflegung ausgegangen, es gab jetzt nichts mehr zu essen. Am dritten Tag war auch das Trinkwasser verbraucht. Viele Flüchtlinge hatten etwas Verpflegung dabei. Man teilte, solange man konnte. Einer half dem anderen. Es bildete sich eine Art Notgemeinschaft an Bord.

Am vierten Tag hatte niemand mehr etwas Essbares, doch das Schlimmste war der Durst. Durchfall verbreitete sich. Die Zahl der Kranken wurde immer größer. Doch es gab weder einen Arzt noch einen Sanitäter oder eine Krankenschwester an Bord. Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung griffen um sich. Jeder hoffte, dass die Fahrt bald zu Ende sei. Doch es dauerte und dauerte. Dann wurde es wieder Nacht.

Ich erinnere mich an laute Gebete der Flüchtlinge. Plötzlich stimmte irgend jemand unter uns das Lied an: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir!“ Viele sangen mit. Der Gesang klang dumpf und verzweifelt – ich werde ihn in meinem ganzen Leben nicht vergessen können, so schauerlich, Herz und Seele durchdringend, erklang dieses Lied. Mir lief es dabei kalt über den Rücken, obwohl ich fast noch ein Kind war. Vielleicht hat sich mir deshalb dieses Lied so tief in die Erinnerung eingebrannt.

Wir dankten alle Gott, als wir am 12. März bei klarem Himmel und Sonnenschein gegen 11.00 Uhr in den Swinemünder Hafen einliefen. Der Kapitän hatte Mühe, einen freien Ankerplatz zu finden, denn der ganze Hafen lag voller Schiffe.

Der Frachter „Andros“ legte hinter einem kleinen Passagierschiff am Kai an. Um 11.20 Uhr wurden die Seitenpforten geöffnet, die Gangway wurde hinausgeschoben – die Ausschiffung der Passagiere der „Andros“ begann. Die ersten Flüchtlinge hatten gerade die Gangway betreten, da gab es Fliegeralarm. Ehe die Menschen überhaupt wussten, wo sie Schutz suchen sollten, fielen schon Bomben auf den Swinemünder Hafen, die Schiffe, die Stadt und die Menschen.

Eine der ersten Bomben fiel auf die Gangway des Dampfers „Andros“. Die darauf stehenden Menschen wurden in Stücke gerissen und durch die Luft geschleudert. Kurz darauf traf eine zweite Bombe das Achterschiff; im Nu brannte es lichterloh.

Die Bomben traffen auch einen überfüllten Flüchtlingszug, der abfahrbereit auf dem Gleis an der Pier steht. Wir, die wir uns vor wenigen Augenblicken auf den Weg gemacht hatten, um von Bord zu gehen, erschraken fast zu Tode, als wir ein furchtbares Heulen, Krachen und Bersten hörten und ein Geschrei begann, als würde die ganze Welt untergehen. Da das Schiff sofort Schlagseite bekam, ahnten wir, dass es von einer Bombe getroffen worden war und sinken würde.

Wir spürten die große Gefahr, in der wir uns befanden. Meine Mutter und meine kleine Schwester waren vor mir oben auf dem Deck. Es gelang ihnen mit Hilfe anderer, auf das vor uns liegende Schiff überzusteigen. Währenddessen bemühte ich mich, mit meiner 81-jährigen Großmutter nach oben zu gelangen und meiner Mutter auf das andere Schiff nachzufolgen. Doch das schaffte ich mit meinen schwachen Kräften nicht. So musste ich schweren Herzens unsere alte Großmutter liegenlassen. Mit letzter Kraft gelang mir noch das Übersteigen auf das andere Schiff. Ich war wohl die Letzte, der das glückte, denn da der Abstand zwischen der „Andros“ und dem davor liegenden Schiff immer größer wurde, fielen die mir folgenden Leute zwischen den Schiffen in das Hafenwasser. Immer mehr Bomben hagelten auf den Hafen. Wir liefen, so schnell wir konnten, in einen in unmittelbarer Nähe befindlichen großen Bunker. Unsere letzte Tasche mit allen Ausweispapieren hatten wir auf der „Andros“ zurücklassen müssen. Jetzt besaßen wir nur noch das, was wir auf dem Leibe trugen.

Um 12.45 Uhr wurde Entwarnung gegeben. Die Bombardierung des Hafens und der Stadt Swinemünde war vorbei. Zurück blieben, wie wir später hörten, über 20000 Tote und viele tausend Verletzte.

Als wir den Bunker verlassen hatten, erlebten wir an diesem Trauertag eine freudige Überraschung. Unsere Oma war noch von der brennenden „Andros“ gerettet worden. Matrosen hatten sie mit einem an einem Kran befestigten Netz von Bord der „Andros“ auf den Kai gehievt. Oma war verletzt und nicht ansprechbar. Ein Sanitätsauto brachte sie nach Greifswald. Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört und nie erfahren, wann, wie und wo sie gestorben ist und wo sie ihre letzte Ruhe fand.

In dem durch den Bombenangriff fast völlig zerstörten Swinemünde konnten wir nicht bleiben. Zu dritt setzten wir unsere Flucht fort. Sie endete nach einigen Wochen in Neustadt-Glewe in Mecklenburg.

Dort aber wurden wir von den Russen eingeholt. Sie zwangen uns, dahin zurückzukehren, wo wir hergekommen waren und vor unserer Flucht gewohnt hatten – wir mussten zurück nach Löwenhagen in Ostpreußen.

Es war ein abenteuerlicher Weg zurück. All unsere Mühe, den Russen zu entkommen, war letztlich umsonst gewesen. In Löwenhagen angekommen, schickte man uns weiter nach Insterburg. Hier lebten wir bis zum Herbst 1948 und waren gezwungen, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Dann aber kam der „Tag der Vertreibung“, für uns ein „Tag der Befreiung“. Wir wurden in die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands ausgewiesen. Dort, wieder unter den Russen, wollten wir aber nicht bleiben. Wir machten uns noch einmal auf die Flucht. Bei Helmstedt gingen wir über die Grenze in das westliche Besatzungsgebiet Deutschlands. Von dort fuhren wir weiter nach Hamburg, zu unserem Vater, der den Krieg überlebt hatte. Nach dreieinhalb Jahren war unsere Flucht endlich zu Ende.


Mit Genehmigung des Verlages entnommen dem Buch: „Pommern auf der Flucht. Rettung über die Ostsee aus den Pommernhäfen“, 2. Auflage 2016, Zeitgut Verlag, Berlin, 444 Seiten 19,90 Euro