26.04.2024

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11.05.18 / Mischung aus Lehrbuch und sarkastischer Polemik

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-18 vom 11. Mai 2018

Mischung aus Lehrbuch und sarkastischer Polemik
Dagmar Jestrzemski

Wer sind wir, woher kommen wir? Auf diese uralten Fragen der Menschheit bieten schon seit Jahren Unternehmen für Genanalyse Auskunft auf Grundlage einer einfachen Speichelprobe. Die schwedische Autorin Karin Bojs beobachtete die enormen Fortschritte in der DNA-Technologie, während sie viele Jahre als Wissenschaftsjournalistin bei der Tageszeitung „Dagens Nyheter“ beschäftigt war. Besonders faszinierte sie die Möglichkeit, alte DNA zu entschlüsseln, um menschliche Abstammungslinien und Völkerwanderungswellen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit zu rekonstruieren. 

Da sie über ihre eigene Familie wenig wusste, ließ sie ihre DNA sequenzieren und überredete einen Onkel väterlicherseits, sich ebenfalls testen zu lassen. Heraus kamen erstaunlich genaue Zuordnungen innerhalb sogenannter Haplogruppen. Das brachte sie auf die Idee einer Gesamtschau aus persönlicher Perspektive – eine wahrhaft gigantische Herausforderung. In mühevoller, zeitaufwendiger Detailarbeit entstand ihr großartiges Buch „Meine europäische Familie. Die ersten 54000 Jahre“. Das bereits in zehn Sprachen übersetzte Werk wurde in Schweden mit dem August-Preis für das beste Sachbuch ausgezeichnet. Es ist eine große, fundiert recherchierte Erzählung über die Entwicklung der europäischen Bevölkerung und Kultur, geschickt verwoben mit der Herkunftsgeschichte von Bojs Vorfahren und anschaulichen Reisereportagen. 

Genanalysen haben gezeigt, dass jeder Mensch genetische Spuren aus unterschiedlichen Zeiten, Ländern und Regionen aufweist. Zurückzuführen ist dies darauf, dass die Urvölker immer wieder wanderten, seitdem der moderne Mensch vor 60000 bis 80000 Jahren Afrika verlassen hat. Ihrem Ansatz entsprechend hat Bojs den Schwerpunkt auf die schwedische und skandinavische Vorzeit gelegt, des Weiteren fokussiert sich ihre Darstellung auf Mittel- und Osteuropa sowie auf Zypern. Die Autorin las zahlreiche wissenschaftliche Studien und reiste quer durch Europa, um Interviews mit führenden Wissenschaftlern des Forschungsbereichs Paläogenetik sowie mit Archäologen zu führen. Unter anderem traf sie im Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Leipzig ihren Landsmann Svante Pääbo, einen der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Evolutionären Genetik. Pääbo wies als einer der ersten Wissenschaftler nach, dass es entgegen früheren Annahmen sehr wohl eine genetische Vermischung zwischen dem Neandertaler und dem Homo Sapiens gegeben hat, wenn auch nur sporadisch. Dazu hat sich Bojs eine kleine Geschichte über eine solche Begegnung vor 54000 Jahren ausgedacht, die sie an den Anfang ihres Buches gestellt hat. 

Sehr anschaulich sind ihre Berichte über historische Stätten wie Stonehenge und eine französische Bilderhöhle, die sie in Begleitung von Fachleuten besichtigt hat. Wann wurden die Wölfe, wann die Pferde, Rinder und Schafe domestiziert? Was steckt hinter dem Begriff „Migrationismus“ und was hat Ötzi damit zu tun? Letzteres ist nun eindeutig geklärt. In Ötzis Genen wurde bereits 1994 die Haplogruppe K festgestellt. Inzwischen weiß man, dass diese Gruppe ein typischer Marker für die Ausbreitung der frühen Landwirtschaft in Europa ist. Die ersten Bauern wanderten demnach aus dem Nahen Osten nach Europa. Jene Archäologen, die dies schon vor Jahrzehnten behaupteten, hatten also recht. 

Man kann diese außergewöhnliche Leistung der renommierten Autorin nur bewundern. Bereits früher wurde Bojs die Ehrendoktorwürde der Universität Stock­holm verliehen. Dabei liest sich ihr lehrreiches Buch so leicht und flüssig wie ein spannender Roman. Beigegeben ist ein Anhang mit einem Leitfaden zur DNA-Analyse sowie Literatur, Quellen und Reisetipps. Schade nur, dass in der deutschen Ausgabe Karten und Abbildungen fehlen, die man in einer zeitlich und räumlich so weit ausgreifenden Darstellung umso mehr vermisst.

Karin Bojs: „Meine europäische Familie. Die ersten 54000 Jahre“, Theiss Verlag, Darmstadt 2018, gebunden, 431 Seiten, 29,95 Euro