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01.06.18 / Wahlentscheidende Auslandstürken? / Nach neuesten Umfragen findet sich in der Türkei keine absolute Mehrheit für Erdogan als Präsidenten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-18 vom 01. Juni 2018

Wahlentscheidende Auslandstürken?
Nach neuesten Umfragen findet sich in der Türkei keine absolute Mehrheit für Erdogan als Präsidenten
Peter Entinger

Am 24. Juni wird in der Türkei über einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament abgestimmt. Die Wiederwahl von Tayyip Erdogan und ein Wahlsieg seiner Regierungspartei AKP galten lange als sicher. Doch nun ist eine Wechselstimmung zu spüren.

Staatspräsident Erdogan hatte die Wahlen extra um fast 18 Monate vorgezogen, um die Oppositionsparteien kalt zu erwischen und ihnen nur wenig Zeit zu lassen, einen Wahlkampf professionell zu gestalten. Dennoch würden gemäß einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Sonar, das bei der Präsidentenwahl vor vier Jahren nah am Ergebnis lag, nur 42 Prozent für Erdogan stimmen. Die Mehrheit hingegen würde für einen der fünf Kandidaten der Opposition stimmen. Nun ist diese Mehrheit zersplittert, aber dass Erdogan und seine Partei, die an allen relevanten Schaltstellen der Macht sitzt, keine absolute Mehrheit auf die Beine bringen, überrascht dann doch. 

„Bei diesen Präsidenten- und den Parlamentswahlen besteht eine reale Hoffnung auf einen Wechsel“, erklärte Aydin Sezgin gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Sezgin ist stellvertretende Vorsitzender der im vergangenen Oktober gegrün-deten IIyi Parti (IYI, Gute Partei), die als nationalkonservativ bis nationalistisch, laizistisch-kemalistisch ausgerichtet gilt.

Beim ersten Wahlgang braucht ein Kandidat die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen, um gewählt zu sein. Falls dies keinem Kandidaten gelingt, folgt zwei Wochen später ein weiterer Wahlgang, bei dem die einfache Mehrheit reicht. Der Sieger der Wahl wird sowohl Staatsoberhaupt als auch Regierungschef, das Amt des Ministerpräsidenten entfällt.

Die Wahlen in dem Land, das lange als EU-Beitrittskandidat galt, erfolgen unter schwierigen Bedingungen. Exemplarisch dafür ist Selahattin Demirtas, der von der pro-kurdischen Halklar?n Demokratik Partisi (HDP, Demokratische Partei der Völker) nominiert wurde, obwohl er seit November 2016 in Haft sitzt. Der 45-Jährige ist ein Intimfeind Erdogans und konnte bei der Präsidentschaftswahl 2014 mit 9,8 Prozent der Stimmen einen Achtungserfolg erzielen. Der Präsident hat ihn als „Terrorhelfer und Putschisten“ bezeichnet und für ihn eine lange Haftstrafe gefordert. 

Die größte Oppositionspartei ist die Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei). Ihr Präsidentschaftskandidat  ist Muharrem Ince. Der ehemalige Physiklehrer und Schuldirektor gehört seit 2002 dem Parlament an und hat sich mit seiner Wortgewalt ebenfalls den Zorn des Präsidenten zugezogen. „Sie stehlen nicht nur unsere Zukunft, sondern auch die unserer Kinder und Enkel. Wir werden uns unsere Zukunft zurückholen“, erklärte er zu Beginn des Wahlkampfs. 

Doch auch er ist nicht der unumstrittene Oppositionsführer, der die Opposition hinter sich einen könnte. 15 Abgeordnete seiner Fraktion sind zur IYI übergetreten, um dieser die Teilnahme an den vorgezogenen Wahlen im Juni zu ermöglichen. „Sie haben sich für die Demokratie und deshalb dazu entschieden, sich der IYI anzuschließen“, hieß es in einer Erklärung zur Begründung ihres Schrittes. Allerdings gibt es auch Berichte über interne Streitigkeiten, die dazu geführt hätten, dass sich die Abgeordneten der IYI angeschlossen haben. Vorsitzende der IYI ist die frühere Innenministerin Meral Aksener. Die 61-Jährige gehörte vom November 1996 bis zum Juni 1997 dem Kabinett an und ist die einzige weibliche Bewerberin um das Präsidentenamt. Sie wurde vor gut zwei Jahren aus der Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Partei der Nationalistischen Bewegung) ausgeschlossen, die als politischer Arm der Grauen Wölfe gilt. Nach ihrem Ausschluss hatte sie mit der IYI ihre eigene Partei gegründet. 

Es gibt Gerüchte, Erdogan habe die Wahl deshalb vorgezogen, um einen Wahlantritt der IYI zu verhindern. Aksener gilt als äußerst populär. In kurzer Zeit schaffte sie es, die 100000 notariell beglaubigte Unterschriften von Wahlberechtigten zu bekommen, die in der Türkei für eine Kandidatur benötigt werden.

Keine wirklichen Chancen werden Dogu Perinçek von der linksnationalistischen und russlandfreundlichen Vatan Partisi (Vaterlandspartei) eingeräumt. Der 75-Jährige Jurist wurde wegen Unterstützung der Militärputsche 1971 und 1980 inhaftiert. 2003 wurde er für schuldig befunden, „Führer einer terroristischen Organisation“ zu sein, und zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, allerdings wenige Monate später schon wieder freigelassen. 

Noch über ein Jahr älter ist Temel Karamollaoglu, der Chef der radikalislamischen Saadet Partisi (Partei der Glückseligkeit). Er ist ein Urgestein der türkischen Politik und war in den 70er Jahren einmal Wirtschaftsminister. Ernstzunehmende Chancen werden auch ihm nicht eingeräumt. 

Das Rennen dürfte sich zwischen dem Amtsinhaber Erdogan, dem Kandidaten der größten Oppositionspartei CHP, Ince, und Aksener von der IYI entscheiden.

Während sich die Opposition zumindest für den ersten Wahlgang der Präsidentenwahlen nicht auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten gegen Erdogan hat einigen können, steht Erdogans Adalet ve Kalk?nma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) bei der Parlamentswahl einem Bündnis aus Inces CHP,  Akseners IYI, Karamollaoglus Partei der Glückseligkeit und der als liberal-konservativ geltenden Demokrat Parti (DP, Demokratische Partei) gegenüber. Die vier Oppositionsparteien haben sich auf einen Minimalkonsens geeinigt. Sie wollen die Macht der Regierungspartei brechen – bei allen inhaltlichen Unterschieden untereinander. 

Als Zünglein an der Waage könnten die rund drei Millionen Wahlberechtigten im Ausland fungieren. Fast die Hälfte davon lebt in Deutschland, und unter ihnen hat Erdogan überproportional viele Anhänger.