25.04.2024

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01.06.18 / Turbulente Jahre eines Karrierediplomaten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-18 vom 01. Juni 2018

Turbulente Jahre eines Karrierediplomaten
Dirk Klose

Nach einem englischen Bonmot ist ein Botschafter „ein ehrlicher Mann, der ins Ausland geschickt wird, um Lügen zu erklären“. Im Falle des britischen Diplomaten George William Buchanan (1854–1924) hat man eher den Eindruck, er musste immer wieder Feuerwehr spielen, kam also gar nicht zum Lügen. 

Buchanan hat Großbritannien von 1908 bis Anfang 1918 im zaristischen, am Ende revolutionären Russland vertreten. Er war ein Karrierediplomat, noch ganz aus dem viktorianischen Zeitalter. Die turbulenten Jahre in St. Petersburg waren der Höhepunkt seiner Laufbahn. 1923 hat er seine Erinnerungen veröffentlicht, die damals wegen der lebendigen Schilderung der Ereignisse in Russland großes Interesse fanden; bereits 1926 erschien eine deutsche Übersetzung. Jetzt hat der Steidl-Verlag diese lesenswerte Autobiografie wieder ausgegraben; der Osteuropahistoriker Karl Schlögel sieht in dem Buch zu Recht ein großes Stück Zeitgeschichte. 

Persönliche Lebensschilderungen können nicht, wie von Historikern seit der Antike erwartet, sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer) geschrieben werden, Parteilichkeit und Emotionen sind geradezu Voraussetzung. Bei Buchanan ist es nicht anders; natürlich gilt „Britain first“, und zumal in den Kriegsjahren findet er harsche Worte für die Politik des deutschen Kaiserreiches, das schuld am Kriegsausbruch 1914 sei. Es bleibt aber Kritik in der Sache, die feine britische Art verbietet persönliche Verunglimpfungen. 

Was das Buch so spannend macht, ist der genau festgehaltene Zerfall des Zarenreiches. Wie überall in Europa zogen auch in Russland die Soldaten mit Hurra ins Feld, umjubelten Massen den Herrscher. Aber schon Ende 1914, nach den schweren Niederlagen gegen die Deutschen in Ostpreußen (Tannenbergschlacht) änderte sich alles. Die sich zuspitzende soziale Lage, militärische Niederlagen und politisches Chaos beschleunigten von Monat zu Monat die Katastrophe, die dann im Februar 1917 die Herrschaft des Zaren binnen Stunden hinwegfegte. 

Der Leser spürt Buchanans wachsende Erregung. Sein guter Draht zum Zaren erlaubte eine ungewöhnliche Offenheit. Ständig beschwor er ihn, politische Reformen einzuleiten; stets freundlich lehnte dieser alle Anregungen strikt ab, bestärkt von seiner (deutschstämmigen) Gattin, die wiederum unter dem unheilvollen Einfluss des Mönchheiligen Rasputin stand. 

Die provisorische Regierung unter Alexander Kerenskij lenkte die Dinge nicht zum Besseren. Im November 1917 gelang den Bolschewiki unter Lenin und Trotzkij die Eroberung der Macht. Obwohl angewidert von deren Brutalität, attestiert Buchanan beiden dennoch, dass sie im Gegensatz zu allen anderen „ungewöhnliche Männer“ seien. Buchanan sieht sich ab Sommer 1917 dramatischen Situationen gegenüber; mehrfach bricht er zusammen, im Januar 1918 kann er die Heimreise antreten. Es folgen noch zwei ruhige Jahre in Rom. Seine Petersburger Zeit lässt ihn zu dem Urteil kommen: „Die Unfähigkeit der Russen zusammenzuarbeiten, selbst wenn das Schicksal des Vaterlandes auf dem Spiele steht, muss man fast einen Defekt der Nation nennen.“

Der Leser steht einmal mehr vor dem „Rätsel Russland“. Die Neuausgabe wäre noch verdienstvoller gewesen, wenn ihr wenigstens ein Minimum an Erläuterungen und ein Register beigegeben worden wäre. So bleibt leider manches, was für das genauere Verständnis wichtig wäre, fremd. Gleichwohl: Buchanans Buch lässt den heißen Atem der Geschichte spüren, manche Urteile sieht man längst als bittere Wahrheit: „Kerenskijs Regierung war wie das Zarentum ohne Kampf gefallen. Wenn ich für das Zarentum und die provisorische Regierung eine Grabinschrift verfassen müsste, würde ich es mit zwei Worten tun: Versäumte Gelegenheiten.“

 George William Buchanan: „Meine Mission in Russland“. Vorwort: Karl Schlögel. Steidl Verlag, Göttingen 2018, gebunden, 448 Seiten, 24 Euro