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08.06.18 / Das krumme Ding der EU / Als die Eurokraten über die Gurke herfielen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-18 vom 08. Juni 2018

Das krumme Ding der EU
Als die Eurokraten über die Gurke herfielen
Klaus J. Groth

Die „Gurken-Norm“ gilt als Symbol für eine Überregulierung, mit der die EU die Bürger nervt. Am 15. Juni vor 30 Jahren wurde sie eingeführt.

Als die EU-Verordnung 1677/88 bekannt wurde, glaubten viele an einen Aprilscherz. Aber das konnte nicht sein, denn die Eurokraten scherzen nicht. Da wuchsen in der deutschen Bevölkerung und auch anderswo zum ersten Mal Zweifel an dem sinnvollen Tun in Brüssel. Es war die Geburtsstunde der EU-Skeptik, die heute das europäische Haus zum Erzittern bringt. Kabarettisten brauchten nur das Wort Gurke fallen zu lassen, da bog sich das Publikum vor Lachen. Jeder hatte förmlich vor Augen, wie die unterbeschäftigten, überbezahlten Beamten auf ihren sonst leeren Schreibtischen Gurken hin- und her rollten, um das ideale Maß zu finden.

Das Ergebnis der Vermessung wurde im EU-Amtsblatt 21-25 bekannt gegeben. Die Schlangen-Gurke der Handelsklasse Extra sollte ein Ding sein wie aus dem Gemüse-Schönheitswettbewerb zur Wahl der „Miss Gurke“: „Gut geformt … und praktisch gerade“, sie sollte die „maximale Krümmung von zehn Millimetern auf zehn Zentimeter“ nicht überschreiten. Eine Entscheidungshilfe für die Verbraucher war die Vorschrift aber nicht. Darüber, ob eine Gurke Vitamine haben muss und nicht nach nichts schmecken darf, schwieg sich EU-A 21-25 aus, was ganz im Sinn der Holländer war. Auch Lauch der Güteklasse eins musste sich dem Willen der EU fügen, was aber nicht publik wurde. „Mindestens ein Drittel der Gesamtlänge oder die Hälfte des umhüllten Teils muss von weißer bis grünlich-weißer Färbung sein. Jedoch muss bei Frühporree/Frühlauch der weiße oder grünlich-weiße Teil mindestens ein Viertel der Gesamtlänge oder ein Drittel des umhüllten Teils ausmachen.“

Die Eurokraten bezogen im Fall der Gurke zu Unrecht alle Prügel. Sie setzten nur die Wünsche der Lobbyisten von Gemüsebauern, Handel und Spediteuren um. Genormte Gurken und anderes Grünzeug lassen sich kostengünstig und zeitsparend verpacken und transportieren. Die Gemüse-Multis brachten die Gurke, eigentlich ein Bodenkriecher, durch „hängende Aufzucht“ auf die geforderte Gestalt, bis sie sich millimetergenau in die Kiste zwängte.

So lautstark der kollektive Zorn bei der Einführung der Gurken-Norm war, so still blieb es bei ihrer Abschaffung. Im Juli 2009 wurde sie ohne Angaben von Gründen beerdigt. Die Medien nahmen kaum Notiz davon. In Brüssel war, mit reichlicher Verspätung, Volkes Wunsch nach Bürokratieabbau angekommen. Das Verdienst, die Problem-Gurke erledigt zu haben, heftet sich gern Edmund Stoiber an die Brust. Der ehemalige bayerische Ministerpräsident setzte sich seit 2007 als Leiter einer High Level Group (HLG) in Brüssel für eine „Entbürokratisierung“ ein. Die leidige Gurke stand auf der Aufgabenliste dieses Kämpfers gegen die Windmühlenflügel der EU-Kreativen ganz oben. Ein großer Teil der Länder wollte die Vorschrift aber behalten. Zu ihnen gehörte auch Deutschland. Widerstand gegen die Abschaffung kam vor allem vom Bauernverband und vom Handel. Bei einer Tagung in Hamburg warb Stoiber für das Ende der Gurken-Norm. Als die Dis­kussionen um Form und Krümmungsgrad kein Ende nehmen wollte, grantelte der Bayer in den Saal: „Ja, Herrschaften, jeder weiß doch, wie eine Gurke aussieht!“ 

Das leuchtete allen ein. Verordnung 1677/88 wurde mit Zustimmung von Deutschland in den Papierkorb gestampft. Doch es änderte sich nichts. In den Supermärkten liegen nach wie vor die praktischen Gurken-Klone. Insgesamt wurden 2009 26 von 36 Regulierungen für Gemüse und Obst gekippt. Nur noch zehn Hauptprodukte unterliegen seitdem Vermarktungsnormen. Das sind Äpfel, Birnen, Erdbeeren, Gemüsepaprika, Kiwis, Pfirsiche beziehungsweise Nektarinen, Salate, Tafeltrauben, Tomaten sowie Zitrusfrüchte. 

In der Brüsseler Regulierungsflut war dieser Befreiungsschlag nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Rund 21000 Verordnungen, Richtlinien und Rechtsakte gibt es, sie sind aufgeschrieben in 24 Amtssprachen. Zirka 104000 Mit­arbeiter in Vollzeit produzieren jedes Jahr an die 1400 neue Ideen. Der Bund der Steuerzahler hat einen ganzen Strauß von Verordnungen zusammengestellt, über die man sich nur wundern kann. Die Richtlinie 2001/113/EG bestimmt, wann ein „Fruchtmark-Erzeugnis“ als „Konfitüre“, als „Konfitüre Extra“, als „Gelee“, als „Gelee Extra“, als „Marmelade“ oder als „Gelee-Marmelade“ bezeichnet werden darf. Eine kleine Kostprobe aus dem Gesetzestext: „Konfitüre ist die auf die geeignete gelierte Konsistenz gebrachte Mischung von Zuckerarten, Pülpe und/oder Fruchtmark einer oder mehrerer Fruchtsorte(n) und Wasser. Abweichend davon darf Konfitüre von Zitrusfrüchten aus der in Streifen und/oder in Stücke geschnittenen ganzen Frucht hergestellt werden.“

Oder Kaugummi: Die Angabe „Zuckerfreier Kaugummi trägt zur Neutralisierung der Säuren des Zahnbelags bei“ darf nur bei Kaugummis verwendet werden, die auch wirklich zuckerfrei sind. Außerdem muss dem Verbraucher mitgeteilt werden, dass sich die positive Wirkung bei mindestens 20-minütigem Kauen nach dem Essen oder Trinken einstellt.

Nach der Verordnung Nr. 97/2010 kann der EU-Bürger sogar eine echte Pizza Napoletana backen: „Mehl, Wasser, Salz und Hefe werden vermischt. Ein Liter Wasser wird in die Knetmaschine gegossen, darin werden 50 bis 55 g Meersalz aufgelöst und etwa 10 Prozent der vorgesehenen Gesamtmenge Mehl hinzugegeben. Danach werden 3 g Bierhefe aufgelöst, die Knetmaschine wird in Gang gesetzt und nach und nach werden 1,8 kg Mehl W 220-380 bis zum Erreichen der gewünschten Konsistenz hinzugegeben, die als ‚punktgenau richtiger Teig‘ bezeichnet wird. Dieser Vorgang muss 10 Minuten dauern …“

Olivenölkännchen, Wattstärke von Staubsaugern, Glühbirnen, Kondome – um alles kümmert sich die EU und sorgt immer wieder für Kopfschütteln. 2015 beschloss der Deutsche Bundestag eine Bürokratiebremse. Für eine neue Verordnung sollen zwei alte abgeschafft werden. Wie sagte der Philosoph und Staatstheoretiker Montesquieu (1689–1755): „Nutzlose Gesetze entkräften nur die notwendigen.“