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08.06.18 / »Republikflucht« per Dienstreise / Wie der SED-Staat dieses Schlupfloch durch die Mauer besser sichern wollte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 23-18 vom 08. Juni 2018

»Republikflucht« per Dienstreise
Wie der SED-Staat dieses Schlupfloch durch die Mauer besser sichern wollte
Heidrun Budde

Am 2. April 1970 befasste sich der Ministerrat der DDR mit dem Problem der „Republikfluchten“ durch Dienstreisende ins westliche Ausland. 1969 gab es 120 Fälle. Mit 62 Fällen am häufigsten flohen Seeleute über den Dienstweg. Die einstmals geheimen Unterlagen geben heute darüber Auskunft, wie der SED-Staat dieses Schlupfloch durch die Mauer besser sichern wollte.

In der „Vertraulichen Verschlusssache“ des Ministerrates wurde kritisiert, dass die fachlichen Voraussetzungen zu sehr in den Vordergrund gerückt worden seien. Als „wichtige Faktoren“ bei der Auswahl von Dienstreisenden waren nunmehr hervorzuheben: der „politisch-ideologische Reifegrad; die Zuverlässigkeit und Standhaftigkeit; die politische Aktivität; die Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen; die familiären Verhältnisse; der politisch-ideologische Reifegrad der Ehefrauen und deren Eigenschaften und Verhaltensweisen“.

Erklärtes Ziel war die Überprüfung der politischen Treue zum Staat – nicht für Agenten, die ins Ausland geschickt wurden, sondern für solche vergleichsweise unpolitischen Berufsgruppen wie Montagearbeiter, Piloten, Seeleute, Zugführer oder Handelsreisende. Diese brisante Aufgabe der ideologischen Kontrolle erledigte nicht allein die Staatssicherheit mit den „Inoffiziellen Mitarbeitern“ (IM). Auch die „operative Personenkontrolle“ der Deutschen Volkspolizei mit dem Abschnittsbevollmächtigten (Volkspolizist im Wohngebiet), der „zuverlässige und verschwiegene Auskunftspersonen“ im Wohngebiet und auf der Arbeitsstelle rekrutierte, half tatkräftig mit.

Streng geheim wurden zunächst diese allgemeinen Kriterien für die „Sicherheitsüberprüfungen“ vorgegeben: „positive oder zumindest loyale Einstellung zum sozialistischen Staat und zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR; ablehnende Einstellung gegenüber feindlichen und anderen negativen Aktivitäten, Erscheinungen und Einflüssen; … keine Verhaltens- und Lebensweisen, die dem Gegner als Ansatzpunkte für Kontaktaufnahme und subversive Aktivitäten dienen könnten; keine engen Kontakte und Verbindungen zu Personen, die eine feindlich-negative Einstellung haben.“

Für Seeleute und Piloten gab es daneben noch diese speziellen Überprüfungskriterien: „Bindung an die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR; Wertschätzung der sozialen Sicherheit; grundsätzliche Übereinstimmung persönlicher und gesellschaftlicher Interessen; Übereinstimmung von Wort und Tat; Bindung an die Familie, an Verwandte und Freunde, an die berufliche Tätigkeit und das Arbeitskollektiv; Persönlichkeitsmerkmale, die den Schluss zulassen, dass feindlich-negative Beeinflussungs-, Korruptions- und Missbrauchsversuchen widerstanden wird; Persönlichkeitseigenschaften, die erwarten lassen, dass zu verwandtschaftlichen u. a. privaten Verbindungen nach nichtsozialistischen Staaten bzw. Westberlin eine gefestigte positive Einstellung als Bürger der DDR eingenommen wird; … Bindung an vorhandene materielle Werte, wie Wohnungseinrichtungen, Fahrzeuge, Wochenendgrundstücke, Ersparnisse u. a. Vermögenswerte; Bindung an ideelle Werte, wie gesellschaftliche Auszeichnungen und Anerkennungen, berufliche und familiäre Traditionen, Heimatverbundenheit u. dgl.“

In der Zeit der sogenannten Wende sicherten couragierte Bürger Akten im Panzerschrank des Generaldirektors der DDR-Staatsreederei VEB Deutfracht/Seerederei Rostock (DSR), die darüber Auskunft geben, wie gut diese gewollten heimlichen Überwachungen funktionierten und dass es dabei ganz unterschiedliche „freiwillige Helfer“ gab. Entscheidungen über den Entzug des Seefahrtsbuches (Streichung des „Sichtvermerks“) wurden willkürlich getroffen, muss­ten vor den Betroffenen nicht begründet werden und unterlagen auch keiner gerichtlichen Nachprüfung. Eine Berufsausbildung zum Vollmatrosen wurde beispielsweise mit diesen Begründungen versagt:

„Im Elternhaus gibt es Probleme zur Lebensführung, beide Elternteile sind labil, neigen zu übermäßigem Alkoholgenuss, Mutter häufig Männerbekanntschaften. Trotz der sehr guten Entwicklung des Jugendlichen wird der Sichtvermerk nicht genehmigt.“ „H. hat zum Elternhaus keine feste Bindung. Es gibt zwischen den Eltern oft Streitigkeiten, da sein Vater dem Alkohol sehr zuspricht.“ „Die Mutter des S. hat häufig wechselnde Männerbekanntschaften. Der Stiefvater ist politisch negativ eingestellt und vorbestraft. Der Sichtvermerk bleibt abgelehnt.“ „Im Elternhaus besteht starke Orientierung in das westliche Ausland. Der Sohn Sven wird dadurch sehr beeinflusst. Festlegung: Die Ablehnung des Sichtvermerks bleibt bestehen.“ „Aus dem Heimatort wurden anonyme Hinweise gegeben, dass das Elternhaus enge Verbindungen zu Personen der BRD unterhält. Nach nochmaliger Prüfung musste festgestellt werden, dass über die Großmutter (wohnt in der gleichen Ort/Straße) aktive und umfangreiche Verbindungen bestehen … Die nachträgliche Streichung des Sichtvermerkes wird bestätigt.“ „Nach Bestätigung des Sichtvermerks am 4.6.85 ging am 16.4.86 eine Information der Schule ein. Darin wird mitgeteilt, dass die Entwicklung des Schülers seit Abschluss des Lehrvertrages äußerst negativ verlaufen ist. Der Direktor und Parteisekretär stimmen einem Einsatz im grenzüberschreitenden Verkehr nicht mehr zu … Der Lehrvertrag ist wegen Nichteignung zu lösen.“

Auch gestandene Seeleute verloren ihren Beruf wegen heimlicher bösartiger Unterstellungen aus unterschiedlichen Motiven wie Neid, Missgunst, Rachegedanken oder einfach nur aus politischer Wichtigtuerei, wie diese Beispiele aus den Akten zeigen: „Durch die Eheschließung haben sich die aktiven Verbindungen der Mutter und Schwiegereltern verstärkt. Als Angehöriger der NVA hat sich W. mit einem BRD-Fahrzeug zum Standesamt fahren lassen. Seine jetzige Ehefrau wird als überheblich eingeschätzt. Die Einreisen aus Berlin-West und der BRD sind zu belegen. Festlegung: Die Ablehnung des Sichtvermerkes bleibt bestehen.“ „Die Einstellung erfolgte im September 1979 als Wirtschaftsoffizier. Durch nachträgliche Information seines damaligen Betriebes wurde auf Streichung des Sichtvermerkes entschieden. Als Genosse zeigte er passives und labiles Verhalten. Er ist gesellschaftlich und politisch inaktiv, moralische Schwächen sind stark ausgeprägt. Er ist nicht gewillt, seine politischen Aktivitäten zu verstärken. Durch die Abt. Kader/Bildung des FA wurde das Seefahrtsbuch eingezogen.“ „Genosse S. hat intime Beziehungen zur Stewardess ... Die Ehegattin hat sich in einem Brief an den Generaldirektor gewandt. Es wurde bekannt, dass Genosse S. im Ausland in der Öffentlichkeit negativ in Erscheinung trat … Festlegung: Aus Sicherheits- und kaderpolitischen Gründen ist Genosse S. für den weiteren seeseitigen Einsatz nicht zuzulassen.“ „Aufgrund der Tatsache, dass die Ehefrau von J. die Information gab, dass ihr Mann sein Seefahrtsbuch dazu benutzt, um die Verwandtschaft in der BRD zu besuchen, wurde die Entscheidung getroffen, J. für den seeseitigen Einsatz zu sperren.“ „Durch den Schwiegervater des Genossen R. wurde über die Ehefrau bekannt, dass die Ehe zerrüttet ist. Das unmoralische Verhalten des Gen. R. kann nachweislich belegt werden.“ „S. ist geschieden und führt einen unmoralischen Lebenswandel (sehr viele Frauenbekanntschaften). S. hat keine Bindung zur DDR. Festlegung: Der Sichtvermerk bleibt abgelehnt.“ „Es wurde festgestellt, dass die Eltern des Gen. K. Verbindungen zu ehemaligen sowjetischen Bürgern in der BRD aufgenommen haben. Aus Sicherheitsgründen kann er nicht mehr zur See fahren.“ „Es wurde bekannt, dass die Mutter Intimkontakte zu einem Bürger der BRD hat, sie musste wegen Verstoßes gegen die Grenzordnung zur Verantwortung gezogen werden. Der Gen. S., der in ihrem Haushalt lebt, besitzt damit nicht mehr die Eignung für den grenzüberschreitenden Verkehr.“

Der SED-Staat war eine Gesellschaft, in der heimliche Zuträgerschaft gewollt war, wenn es politisch nützlich sein konnte, und das beschränkte sich nicht auf die IM der Staatssicherheit. Die Informanten, ob betrogene Ehefrauen, die ihren Frust abbauten, indem sie dem Ehemann den Beruf nahmen, oder neidische Nachbarn, die den Seeleuten die Weltoffenheit und ein paar verdiente Devisen missgönnten, konnten sicher sein, dass die Betroffenen die Quelle der Boshaftigkeit nicht mitbekamen. Es war eine Frage des menschlichen Anstands, ob sich jemand in diese perfiden Machenschaften einbinden ließ oder nicht. Wichtig ist aber die Feststellung, dass es den spießbürgerlichen Kleingeistern, die es durchaus in der DDR gab, ausgesprochen einfach gemacht wurde, sich auszutoben. Seeleute waren keine Gegner des politischen Systems, aber viele wurden es, weil sie aufgrund des grenzenlosen Miss­trauens willkürlich ihren Beruf verloren, ohne Begründung und ohne Klageweg.