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22.06.18 / Abiturwissen Nationalsozialismus auf Französisch

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-18 vom 22. Juni 2018

Abiturwissen Nationalsozialismus auf Französisch
Lars Keiser

Historische Collagen und Montagen sind „in“, wenn auch nicht neu. Schon Friedrich Schiller ließ Figuren in seiner Wallenstein-Trilogie Dialoge führen, die so nie vorgekommen sein können, weil die Protagonis-ten zu unterschiedlichen Zeiten lebten. Ähnliche Verdichtungen sehen wir auch bei William Shakes-peare – es gibt unendlich viele Vorläufer zu dieser zeitgenössischen Mode. Gemeinsam ist allen gelungenen Beispielen dieses Genres aber, dass künstlerische Freiheiten quellenbasiert neue Erkenntnisse vermitteln und damit eine tiefere Dimension von Geschichte erschließen. 

Der französische Autor Éric Vuillard, Prix-Goncourt-Preisträger 2017, hat sich in seinem neuen Roman „Die Tagesordnung“ ebenfalls an diesem Genre versucht, sich dafür den Dauerbrenner Nationalsozialismus vorgenommen, und zwar die Tage des „Anschlusses“ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 – und scheitert. 

Zu Beginn treten deutsche Industrielle in einem Salon auf, wofür sich Vuillard in surrealen Personenschilderungen ergeht. Über Wilhelm von Opel erfahren wir so etwa, dass er „ein für alle Mal die unter seinen Nägeln festsitzende Motorschmiere abgebürstet“ hat, ein Adelsprädikat trägt und mit zusammengekniffenen Lippen in die Runde blickt, während die Großindustriellen brav auf ihren Stühlen sitzend, ihre „Flusskrebsaugen“ auf die Tür heften. Die „24 Sphinxe lauschen aufmerksam“, sind aber nur Masken, wie Vuillard weiß, „der Klerus der Großindustrie“. Ja, „sie sind unsere Autos, unsere Waschmaschinen, unsere Reinigungsmittel, unsere Reisewecker“ und weitere Konsumprodukte, die Vuillard noch einfallen. Dann kommt Hitler ins Spiel, den Vuillard als philosophierenden Dilettanten zeichnet: „Als Erstes würde man in Österreich und der Tschechoslowakei einfallen, … nach Herders Spinnereien und Fichtes Reden, seit dem von Hegel gepriesenen Volksgeist und Schellings Traum von der Weltseele (war) der Begriff des Lebensraums nichts Neues mehr.“ Sodann folgt der Auftritt Kurt von Schuschniggs, dem österreichischen Bundeskanzler. Ort der „Handlung“: der Berghof. Hitler verteilt „Schnabelhiebe“ (Vuillard). Aber es geht noch toller. Hitler, „steif wie ein Automatenmensch und glibberig wie Spucke“, setzt Schuschnigg gehörig unter Druck, etwa so wie Trump aktuell die Europäer. 

Das alles wirkt wie das Exposé für eine Dokufiktion im Ressort „History“ im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wofür der Kenntnisstand von „Abiturwissen Nationalsozialismus“ fantasievolll ausgeschmückt wird. Während Albert Lebrun, Präsident der Französischen Republik, noch über Herkunftsbezeichnungen für Weine und über die Staatliche Lotterie grübelt und zwischendurch kurz dem Deutschen Reich den Krieg erklärt – aber das kommt nicht vor, es war ja später – bereitet das „Untier” (Vuillard) den Einmarsch in Österreich vor, um sich „Lebensraum“ zu erobern. Dabei versagt die hochgerüstete Wehrmacht jämmerlich, bleibt aufgrund technischer Mängel unterwegs liegen und muss mit Güterwaggons der österreichischen Bahn nach Wien transportiert werden. Ob wahr oder nicht, daraus aber die Überlegung abzuleiten, dass die Wehrmacht so hochgerüstet womöglich nicht war und möglicherweise auch nicht als Usurpator empfunden wurde, kommt Vuillard nicht in den Sinn. Die Bilder von jubelnden Österreichern – sie sind Machwerke Goebbelsscher Propagandakompanien. 

Spätestens an dieser Stelle empfiehlt sich eine eigene Recherche. Tatsächlich ist Wikipedia hier aufschlussreicher, wo man immerhin erfährt, dass die nach dem Untergang der k.u.k. Monarchie gegründete Österreichische Republik – zur Erinnerung: eine Demokratie – in der Nationalversammlung von 1918 mit überwältigender Mehrheit den Beschluss fasste, sich dem Deutschen Reich anzugliedern. Die Siegermächte, voran Frankreich, wussten dies indessen zu verhindern. 

Vielleicht schlägt Vuillard einmal in den französischen Archiven nach, falls sie denn freigegeben sind. Doch auch in Tirol, in der Steiermark und Salzburg fanden auf Landesebene 1921 weitere Volksabstimmungen statt, die sich alle mit klarer Mehrheit für einen „Anschluss“ an das Deutsche Reich aussprachen. Weitere Abstimmungen unterblieben, da die Siegermächte, Frankreich vorneweg, diese untersagten. Wenn die Geopolitik in Zielkonflikt mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker gerät, hat letzteres eben das Nachsehen. Der Stil eines „magischen Realismus“ wie Vuillard ihn hier krawallig entfaltet, wird dem gewählten historischen Gegenstand in keiner Beziehung gerecht. Stattdessen unterbietet der Autor populäre Geschichtsklischees noch an Einseitigkeit und Undifferenziertheit.

Èric Vuillard: „Die Tagesordnung“, Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018, gebunden, 128 Seiten, 18 Euro