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06.07.18 / Schlummerndes Hilfs-Potenzial / Von der Notlösung zu einer Lösung von Nöten – Bonner Raiffeisenkongress pries die moderne Idee des Genossenschaftsgründers

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-18 vom 06. Juli 2018

Schlummerndes Hilfs-Potenzial
Von der Notlösung zu einer Lösung von Nöten – Bonner Raiffeisenkongress pries die moderne Idee des Genossenschaftsgründers
Bodo Bost

Die Genossenschaftsidee soll weiterhin eine Zukunft haben. Das hat man beim Evangelischen Raiffeisenkongress in Bonn beschworen, der im Juni anlässlich des 200. Geburtstags von Friedrich Wilhelm Raiffeisen in diesem Jahr erstmals ausgetragen wurde und auf dem man sich mit der Aktualität des Kooperativwesens in Deutschland und der „Einen Welt“ befasste.

Das Genossenschaftswesen – einst von Raiffeisen als Notlösung unter armen und auf sich gestellten Landbewohnern im We­s-terwald entwickelt – hat mit dem Prinzip von Teilhabe und Teilnahme weltweit Schule gemacht. Deshalb lautete der Titel des ersten Raiffeisenkongresses: „Teilhabe und Teilnahme – Zukunftspotenziale der Genossenschaftsidee“.

In fünf Themensträngen diskutieren mehr als 50 Fachleute aus Wissenschaft und Praxis, aus Genossenschaftsverbänden und Genossenschaften, aus Diakonie, Entwicklungsarbeit, Finanzwirtschaft und Kirchenorganisation sowie aus Ökonomie und Theologie über die Zukunft dieser großartigen Genossenschaftsidee, deren Potenziale noch längst nicht ausgeschöpft sind. Zugleich erinnerte der Kongress an den christlich geprägten Raiffeisen, ohne dessen Frömmigkeit sein ökonomisches wie soziales Engagement kaum zu verstehen ist. Sein Glaube war Grundlage für sein ökonomisches und soziales Engagement.

Der von seiner christlichen Motivation angetriebene Genossenschaftsgründer Raiffeisen (1818–1888, siehe PAZ vom 30. März) sei mit seiner Idee der Hilfe zur Selbsthilfe nicht nur der Kirche, sondern auch der sozialen Arbeit praktisch und konzeptionell weit voraus gewesen, sagte der Präses der rheinischen Kirche Manfred Rekowski. Auch heute noch stünden Genossenschaften oft für innovative Projekte. 

Am deutlichsten wurde die positive Rolle der Genossenschaftsidee zuletzt bei der Bankenkrise, als die Genossenschaftsbanken zu den wenigen Banken gehörten, die nicht mit öffentlichen Mitteln gerettet werden mussten. Heute gehören die Genossenschaftsbanken wegen ihrer Kundennähe oft zu denjenigen, die entgegen dem Trend kaum Filialen schließen.

Die Staatssekretärin im rheinland-pfälzischen Wirtschaftsmi­nisterium, Daniela Schmitt (FDP), sagte auf dem Kongress, Raiffeisens Wertesystem sei heute genauso passend wie vor 150 Jahren. Ein Vertreter von der SPD war nicht zu der Tagung erschienen, die SPD wurde seinerzeit von Raiffeisen als „Umsturzpartei“ tituliert. Diesem Namen werden die Sozialdemokraten zumindest in Rheinland-Pfalz auch heute noch gerecht, denn die SPD-geführte Landesregierung hat Karl Marx ein eigenes Gedenkjahr gewidmet, aber Raiffeisen, dessen Wirken viel nachhaltiger war, nicht. Marx hielt nicht viel von den Genossenschaften, Konsum- und Kreditgenossenschaften brachte er gar in Zusammenhang mit Kapitalismus, lediglich den Produktgenossenschaften, die es in England in nennenswerter Zahl bereits gab, konnte er positive Aspekte abgewinnen.

Raiffeisen wollte bewusst eine Alternative zur liberalen Marktwirtschaftsordnung aufbauen. Er sah in der Landbevölkerung die Basis der Gesellschaft und des Vaterlandes, als Bürgermeister war er von der Pflicht des Staates, den Armen zu helfen, überzeugt. Er musste jedoch erkennen, dass die Nächstenliebe allein nicht ausreicht als Basis einer Genossenschaft, von daher ging er zur Solidarhaftung über.

Als Bürgermeister in verschiedenen Gemeinden im Westerwald hatte Raiffeisen Genossenschaften gegründet, um der an Armut leidenden Bevölkerung die Möglichkeit zur wirtschaftlichen Selbsthilfe zu geben. Der Kölner Soziologe Frank Schulz-Nieswandt warnte davor, den Begriff Genossenschaft zu eng zu definieren. Auch Basisgemeinden, Nachbarschaftshilfen oder sogar Vereine können dazu gehören. Für ihn war auch die Urgemeinde der Kirche eine Genossenschaft, bis ins 2. Jahrhundert sei auch die Mahlgemeinschaft der Urkirche  ein Sättigungsmahl gewesen, heute habe vielerorts der Konsum den Gottesdienst ersetzt.

Anders als der Marxismus, der heute irrelevant geworden ist, bietet die Genossenschaftsidee auch jetzt noch vor allem in der sogenannten „Einen Welt“, wo es eine Milliarde Genossenschaftler gibt, eine Antwort auf die Nöte der Gegenwart. In Ländern wie Kenia sind drei Viertel aller Arbeitsplätze in der Genossenschaftswirtschaft. In Ruanda, so der Pfarrer Pascal Bataringaya, leisteten Genossenschaften einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag zur Überwindung der Folgen des Völkermordes von 1996. Dank genossenschaftlicher Strukturen stieg der Anteil von Mikrokrediten in der „Einen Welt“ auf 300 Millionen Euro an. Dadurch leisten Genossenschaften einen wesentlichen Teil zur Überwindung der Armut weltweit und zur Einhaltung der Ziele der Agenda 2030. 

Der Kongress war weit mehr als eine Rückschau, er hat das Vermächtnis von Raiffeisen weiter nach vorne gedacht und für innovatives genossenschaftliches Handeln geworben. Das dürfte auch bei den nächsten Kirchentagen deutlich werden. Dabei sollte sich auch die katholische Kirche auf ihr genossenschaftliches Erbe besinnen, immerhin waren es große katholische Sozialreformer, wie Kaplan Georg Friedrich Dasbach (1846–1907) in Trier oder die Jesuiten um Theodor Amstad, SJ. (1851–1938) in Brasilien, bei denen Raiffeisens Ideen als erste auf fruchtbaren Boden fielen, noch bevor die Protestanten auf den Sozialreformer in ihren Reihen aufmerksam wurden.