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06.07.18 / Noch in sechs Kilometer Entfernung barsten Scheiben / Vor 50 Jahren ereignete sich in Bitterfeld einer der schwersten Chemieunfälle Europas mit 42 Toten und über 200 Verletzten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-18 vom 06. Juli 2018

Noch in sechs Kilometer Entfernung barsten Scheiben
Vor 50 Jahren ereignete sich in Bitterfeld einer der schwersten Chemieunfälle Europas mit 42 Toten und über 200 Verletzten
Wolfgang Kaufmann

Der marode Zustand der Industrieanlagen in der DDR führte immer wieder zu dramatischen Havarien. Eine davon ereignete sich vor einem halben Jahrhundert in Bitterfeld. Sie zählt bis heute zu den schwersten Chemieunfällen in der Geschichte Europas.

In der DDR war der Plan Gesetz – seine konsequente Erfüllung rangierte in aller Regel vor Sicherheits- und Umweltschutzbelangen. Gleichzeitig fehlte Geld und Material für die Instandhaltung der Industrieanlagen, weshalb diese permanent auf Verschleiß gefahren wurden. Das stieß zwar auf vielfache Kritik, darunter sogar von Seiten der Staatssicherheit, doch deren Warnungen verhallten genauso wirkungslos wie die der Arbeiter. Es musste produziert werden, 

koste es, was es wolle. 

Das galt auch für das Elektrochemische Kombinat Bitterfeld (EKB), das zu den Grundpfeilern der DDR-Chemieindustrie gehörte und dessen Bedeutung in dem Maße zunahm, wie sich der Ost-West-Konflikt verschärfte und die SED-Führung auf wirtschaftliche Abgrenzung vom Westen setzte. Mitte der 1960er Jahre arbeiteten im EKB auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt deshalb um die 14000 Menschen, viele davon im volkswirtschaftlich besonders wichtigen Kunststoffwerk.

Dort wurden unter anderem 40000 Tonnen Polyvinylchlorid (PVC) pro Jahr produziert, aus dem man seinerzeit Fußbodenbeläge, Rohrleitungen und diverse Konsumgüter herstellte. Als Ausgangsmaterial diente das narkotisierende und in hoher Konzentration explosive Vinylchlorid (VC). Obwohl der Umgang mit dem Gefahrstoff hohe Anforderungen an die Sicherheit stellte, befanden sich die zwölf Autoklaven der Roll-Reaktoren, in denen das Gas zur Verarbeitung kam, in einem miserablen Zustand. Beispielsweise hatte man mangels anderen Materials Papp-Dichtungen in die Zuleitungen der Druckbehälter eingebaut, die ihren Zweck nur sehr mangelhaft erfüllten. Deshalb trat immer wieder VC aus, was dazu führte, dass die betreffenden Autoklaven notentleert werden mussten.

So auch in der Frühschicht des 11. Juli 1968. Um defekte Dichtungen an einem bereits mit vier Tonnen Vinylchlorid befüllten Behälter auszutauschen, ließen die Arbeiter das Gas in die Umgebungsluft entweichen, was extrem gesundheitsschädlich und riskant, aber durchaus üblich war. Während dieses Prozesses erfolgte der Schichtwechsel. Aufgrund der Urlaubszeit halfen damals viele Schüler und Rentner in der Produktion aus. Deshalb bestand die Spätschicht aus weniger qualifizierten Arbeitern. Einer davon geriet dann wohl in Panik, weil der Druck in dem undichten Autoklaven anstieg, und öffnete ein weiteres Ablassventil. Dadurch strömte das Vinylchlorid in nunmehr explosiver Konzentration ins Freie und breitete sich über das Werksgelände aus. Kurz darauf – um 14.02 Uhr – erschütterte eine gewaltige Detonation das EKB sowie ganz Bitterfeld und die umliegenden Orte. Noch im sechs Kilometer entfernten Muldenstein barsten Fensterscheiben. Anschließend stieg eine atompilzähnliche Rauchwolke über der Unglücksstelle auf.

42 der 57 Arbeiter in der Autoklavenhalle, in der die Trümmer nun fünf Meter hoch lagen, waren auf der Stelle tot, der Rest erlitt schwere Verletzungen – so wie auch rund 250 andere Beschäftigte des Werkes. Der direkte Sachschaden lag bei 120 Millionen Mark, der indirekte durch Produktionsausfälle und hierdurch nötig gewordene Importe aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet sogar bei einer Milliarde. Und dabei hatte man letztlich noch Glück im Unglück gehabt. Wenn der junge Arbeiter Peter Krüger aus der 500 Meter entfernten Schlagpresserei und einige Feuerwehrleute nicht unter akuter Lebensgefahr für die sichere Entleerung der anderen Autoklaven gesorgt hätten, wäre vermutlich ganz Bitterfeld zerstört worden.

Als Konsequenz aus der schweren Havarie verschärfte die DDR zahlreiche Bestimmungen des Arbeits- und Brandschutzes auf zum Teil rigorose Weise, was nach vorausgegangenen Katastrophen wie der Grubengasexplosion vom 22. Februar 1960 im Zwickauer Steinkohlenbergwerk „Karl Marx“ mit 123 Toten sowie dem Feuerinferno am Bahnübergang in Langenweddingen, bei dem am 6. Juli 1967 ein Tanklaster infolge des Versagens einer Schranke mit dem Personenzug von Magdeburg nach Thale kollidierte, wodurch 44 Kinder und 50 Erwachsene verbrannten, noch nicht der Fall gewesen war. 

Die gesetzgeberische Kampagne nach dem Chemieunglück von Bitterfeld brachte bis 1971 zehn neue Verordnungen sowie auch ein Landeskulturgesetz hervor, das für höhere Standards im Natur- und Umweltschutz sorgen sollte. Letztlich änderte das aber nichts an der 

systembedingten riskanten Produktionsweise in Bitterfeld und anderswo in der DDR-Industrie. Trotz der Katastrophe von 1968 erhielt das im Folgejahr aus der Fusion des unzerstört gebliebenen Teils des EKB mit der Farbenfabrik Wolfen hervorgegangene Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) keine ausreichenden Mittel zur Modernisierung seiner teilweise extrem verschlissenen und umweltverpestenden Anlagen. Dadurch mutierte Bitterfeld bald zur „dreckigsten Stadt Europas“. 

Die als Folge der Katastrophe erlassenen neuen Sicherheitsvorschriften brachten wenig, da sie zwar streng waren, aber nicht streng befolgt wurden. Die abnehmende Motivation der Beschäftigten in der DDR führte zu Schlamperei und Ignoranz. Deshalb kam es auch in der Folgezeit immer wieder zu schweren Unfällen. Im letzten Kalenderjahr vor der sogenannten Wende waren es 3899. 31 Menschen verloren dabei ihr Leben.