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20.07.18 / Straf-Rucksack für Zappelphilipp / Sand soll es richten – Umstrittene Therapiemethoden für Kinder mit ADHS-Syndrom sorgen an Schulen für Aufregung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-18 vom 20. Juli 2018

Straf-Rucksack für Zappelphilipp
Sand soll es richten – Umstrittene Therapiemethoden für Kinder mit ADHS-Syndrom sorgen an Schulen für Aufregung
Stephanie Sieckmann

Derzeit werden an 200 deutschen Schulen Sandwesten zum Einsatz gebracht, die Kindern mit dem sogenannten ADHS zu einem weniger auffälligen Verhalten verhelfen sollen. An dieser Maßnahme, die viele Fragen aufwirft, scheiden sich die Geister. Die einen sehen in den Westen eine Stigmatisierung und eine physische Belastung, die körperliche Schäden hervorbringen kann. Die anderen feiern die Weste als segenbringende Lösung. 

Wenn Nina K. (9) ihre 2,5 Kilogramm schwere Sandweste trägt, kann sie dem Unterricht ruhiger folgen und Zusammenhänge leichter verstehen, weil sie sich besser konzentrieren kann. Ninas Eltern haben die Sandweste gekauft, nachdem sie von Bekannten positive Berichte über den Einsatz der Sandwesten bei der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) gehört hatten. Die Weste, für die das Paar rund 170 Euro ausgeben musste, hat ihrer Einschätzung nach vorteilhaft bei Nina gewirkt. 

Längst nicht alle Eltern sehen den Einsatz der Westen positiv. Ruhigstellung durch Gewicht? Kommt nicht in Frage! Das ist immer wieder zu hören und greift den Punkt auf, dass die Sandwesten je nach Ausführung zwei bis sechs Kilogramm wiegen. Studien, die belegen, dass das Tragen der Westen den Körper der Kinder schädigt, gibt es dabei genauso wenig wie Studien, die die Verwendung der Westen als erfolgreiche Verbesserung bestimmter Symptome und Probleme auszeichnet. Lehrer, die den Einsatz der Weste befürworten, argumentieren, dass die Westen lediglich 20 Minuten getragen werden. Schulranzen seien deutlich schwerer.

Studien und wissenschaftliche Untersuchungen würden helfen, Licht in das Wirrwarr von meinungsbasierten Einschätzungen zu bringen. Denn auch Lehrer und Ärzte sind gespalten, wenn es um die Sandwesten geht. Von der Seite der Lehrervertretung gab es sogar die Forderung nach einem Verbot für die Sandwesten. Der Verband der Kinder- und Jugendärzte soll sich ablehnend gegen die Weste geäußert haben – es gebe keine medizinische Indikation für eine Weste dieser Art. 

Das Objekt, um das es dabei geht, ist keineswegs eine brandneue Erfindung. Die ersten Prototypen der Sandwesten wurden in Deutschland bereits vor 15 Jahren von der Firma Beluga Healthcare hergestellt. Entstanden auf Nachfrage eines Ergotherapeuten aus Braunschweig, der eine mit Sand beschwerte Weste für Therapiezwecke einsetzen wollte, wurde eine Weste entwickelt, die eng anliegen und dabei einen gleichmäßigen, gut spürbaren aber nicht zu starken Druck ausüben sollte. Ideengeber waren Inhalte der sensorischen Integration, die von der US-amerikanischen Entwicklungspsychologin Jean Ayres bereits in den 1960er Jahren entwickelt worden war. Hier wird angenommen, dass Unruhe und Zappeligkeit bei Kindern entstehen, wenn die verschiedenen Informationen der Sinnesorgane nicht korrekt verarbeitet und zugeordnet werden können.

Durch die schwere, enganliegende Weste wird Druck auf die Rezeptoren in der Haut ausgelöst. Dieser Impuls hilft Körper und Gehirn. Die Wirkung: Konzentration, Aufmerksamkeit und Feinmotorik werden schnell verbessert. In den USA, wo die Sandwesten schon länger eingesetzt werden, finden sie vor allem bei Autismus und Wahrnehmungsstörungen Verwendung.

Während die Diskussion sich zunehmend aufheizt, der Ruf nach wissenschaftlicher Unterstützung laut wird und ein mangelndes Interesse der Industrie beklagt wird, greifen sich Fachleute aus verschiedenen Bereichen mit Vorwürfen an. Der Blick auf die Wurzeln ist dabei aufschlussreich: Angeblich war die erste, die die Wirkung von gleichmäßigem Druck feststellte, die US-Amerikanerin Temple Grandin. Sie war Autistin und beobachtete mit Begeisterung Rinder auf einer Farm, die sich offensichtlich in einem „Squeeze chute“ genannten Gerät entspannten, in dem sie für medizinische Eingriffe fixiert wurden, wobei fester Druck auf verschiedene Körperteile eingesetzt wurde. Die Autistin baute sich daraufhin selbst eine solche Vorrichtung, die sie „Hug Ma­chine“ – zu Deutsch: „Umarmungsmaschine“ – nannte. Sie stellte fest, dass der kontinuierliche Druck sehr wohltuend wirkte. Stark genug musste er sein, um sich gehalten zu fühlen, aber nicht so stark, dass es weh tut. 

Die logische Schlussfolgerung aus dieser Geschichte sollte die Frage sein, warum sich Menschen heute darauf konzentrieren, ein Produkt zu entwickeln, dass mit seinem Verkauf Geld bringt, anstatt daran zu forschen, was Ursache für die modernen Probleme Autismus, Wahrnehmungsstörungen und ADHS sein kann. Hier liefert die Entdeckung von Temple Grandin einen wertvollen Hinweis. Der sanfte aber konstante Druck, der das Gefühl des Gehaltenwerdens vermittelt, ist der entscheidende Faktor. 

Doch muss das Gefühl wirklich von einer Maschine oder einer Weste kommen? Kann die elterliche Hand auf Brust oder Rücken des Kindes nicht die gleiche Wirkung haben? Kinder werden heute nicht mehr auf dem Arm getragen, sondern permanent in Kunststoff-Schalen abgelegt und dann am Arm baumelnd ge­schleppt oder gefahren. 

Es wäre interessant zu wissen, wie viele Minuten ein Kind täglich auf dem Arm getragen und gehalten werden muss, damit die unliebsamen modernen Verhaltens-Auffälligkeiten nicht auftreten. Sollte eine Studie herausfinden, dass es deshalb so viele ADHS-Patienten gibt, weil durch die modernen Lebensumstände und Lebensgewohnheiten etwas Entscheidendes verloren gegangen ist – nämlich die feste regelmäßige Umarmung, das Gehaltenwerden durch die Hände der Eltern –, dann könnte das fatale wirtschaftliche Folgen haben.

Sollte sich herausstellen, dass die Verwendung von teuren Kindersitzen, in denen Babys durch die Gegend getragen werden, oder Schalensitzen im Auto, in die Kinder festgeschnallt werden, dazu führen, dass die Rezeptoren der Haut irritiert sind, könnte der lukrative Markt für diese Produkte einbrechen. 

Nina kann es egal sein. Sie fühlt sich in ihrer Sandweste sichtlich wohl.