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27.07.18 / Miegels späte Wanderfahrt / Marianne Kopp über die letzten Jahre der »Mutter Ostpreußens«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-18 vom 27. Juli 2018

Miegels späte Wanderfahrt
Marianne Kopp über die letzten Jahre der »Mutter Ostpreußens«
Bärbel Beutner

Abschied von Königsberg“ – mit diesem Gedicht gab Agnes Miegel (1879–1964) nach der Zerstörung Königsbergs durch britische Bomber im August 1944 ihren Landsleuten eine Stimme. Ihre „gekrönte Vaterstadt“ war ein Trümmerfeld geworden, bevor die Einwohner sie endgültig verlassen mussten. Marianne Kopp wählte denselben Titel für eine detaillierte Dokumentation über den einschneidendsten Abschnitt in Agnes Miegels Leben: „Zerstörung Königsbergs, Flucht, Flüchtlingsleben und Neubeginn. Agnes Miegels Lebensweg 1944–1953 dokumentiert in privaten Briefen“, lautet der umfangreiche Untertitel. Für die Dokumentation hat Kopp  umfangreiche Quellenarbeit geleistet, um Miegels „späte Wanderfahrt“ darzustellen. 

„Gabst Kraft dem müden Herzen/auf später Wanderfahrt“, steht in der Gedenkstätte an den deutschen Osten im Batterieturm in Schloss Burg an der Wupper zu lesen, für die Miegel 1951 die Verse schrieb, die mit den Worten enden: „Lehrtest mich täglich neue/nichts als den Haß zu hassen.“

Die „späte Wanderfahrt“ begann für Miegel und ihre „Getreue“ Elise Schmidt nach zermürbenden Wochen im Luftschutzkeller in Königsberg. Die Angriffe auf die zerstörte Stadt setzten sich fort, die Evakuierungen stiegen an, und Miegel und ihre Nachbarinnen hofften bis zuletzt, ihr Königsberg nicht verlassen zu müssen. Am 

22. Januar 1945 schrieb sie an Hans von Gabelentz: „Ich hab mich Gott und dem Schicksal befohlen und hoffe die Kraft zu finden in allerschlimmster Stunde die Angst der Kreatur zu besiegen“. Der Leser erfährt Genaues über die Lebensumstände in Königsberg und im Samland. Die Versorgungslage, die Verkehrsverhältnisse, Aufenthalte auf dem Land bei Verwandten von Elise Schmidt in Rantau, der Alltag in der zerstörten Stadt – alles wird authentisch geschildert durch Miegels Korrespondenz. Dasselbe gilt für die Flucht. Am 27. Februar verließ die Dichterin ihre Vaterstadt, um zusammen mit Elise und Nachbarn aus der Hornstraße die Odyssee übers Meer mit unbekanntem Ziel anzutreten. Die Landung des überfüllten Flüchtlingsschiffs „Jupiter“ in Kopenhagen am 14. März, die erste Unterbringung in dem kleinen Ort Grindstedt und die Verlegung in das größte Lager Oksböl am 30. Mai waren weitere Stationen. Bis zum Herbst 1946 dauerte Miegels Aufenthalt dort. Dann konnte sie mit dem ersten Flüchtlingstransport nach Westdeutschland ausreisen und kam Ende November auf Schloss Apelern bei Bad Nenndorf an, wo die Familie von Münchhausen lange auf sie gewartet hatte.

Die Authentizität macht das Buch „Abschied von Königsberg“ zu einer unschätzbaren Forschungshilfe. Die letzten Mitglieder der Erlebensgeneration, die als Kinder Flucht und Aufenthalt in Dänemark mitgemacht haben, finden Belege für eigene Erinnerungen und für die Erzählungen der Erwachsenen und erfahren viel Neues. Wie waren Flucht und Evakuierung organisiert? Welchen Status hatten die Flüchtlinge in Dänemark vor und nach der Kapitulation im Mai 1945? Wie waren die Lebensbedingungen im Lager? Antworten sind in Miegels zeitgenössischer Korrespondenz zu finden. Nach der Kapitulation hatten die Alliierten bestimmt, dass die deutschen Flüchtlinge vorläufig in Dänemark bleiben mussten. Sie waren auch für die strikte Postsperre nach Deutschland bis zum 5. April 1946 verantwortlich“, schreibt Kopp. Die Lager waren zu „Internierungslagern geworden, in denen die Menschen hinter Stacheldraht leben mussten“. Ungewissheit über das Schicksal der Angehörigen, Fraternisierungsverbot mit den Dänen, Beschränkung der Bewegungsfreiheit, später die zermürbenden Bemühungen um Zuzugsgenehmigungen und die allmähliche Erkenntnis, dass eine Ausreise nach Deutschland keine Rückkehr in die Heimat bedeuten würde, das war das Los der Flüchtlinge. 

Miegel sah in allen Lebensumständen das Positive, war dankbar für die Stillung der Grundbedürfnisse, überhaupt für das Überleben und klagte nicht. In Apelern aber schrieb sie doch am 25. November 1946 an Ina Seidel: „Einleben in jeder Beziehung sehr schwer... Unsere Entwurzeltheit, unsere Heimatlosigkeit und alles dazu kommt uns erst hier (wo kaum ostpreußische Flüchtlinge sind, nur Ausgebombte und Schlesier) täglich mehr zum Bewußtsein“. 

Die Heimatlosigkeit, die „Entwurzeltheit“ war nicht das einzige Leid der Dichterin. Ihre Rolle im Nationalsozialismus brachte ihr nach der Kapitulation Hass und Ablehnung ein. Kopp spart dieses Problem nicht aus, im Gegenteil, sie widmet ihm 15 Seiten. 1949 wurde Agnes Miegel von der Spruchkammer als „unbelastet“ eingestuft, aber am 24. August 1947 schrieb sie resigniert an ihre Biografin Anni Piorreck: „Ich mühe mich um ein klares Weltbild, aber das Einzige was ich bis jetzt erfaßt habe ist, dass für mich weder als Mensch noch Dichter mehr ein Platz ist, am allerwenigsten in Deutschland“. Sie fühlte sich missverstanden und versuchte ihre Situation im Dritten Reich zu erklären. Miegel wurde nach dem Krieg für die Landsleute zur Identifikationsgestalt angesichts des Flüchtlingsschicksals und schließlich zur „Mutter Ostpreußen“. Als sie 1964 in Bad Nenndorf bestattet wurde, erwiesen ihr zahlreiche Vertreter aus Politik und Kultur die letzte Ehre. Die Jahresgabe 2017/18 der Agnes-Miegel-Gesellschaft (AMG) zeigt, welches Forschungsmaterial für Historiker, Literaturwissenschaftler und Soziologen noch bereit liegt. Marianne Kopp geht mit bestem Beispiel voran.

Der Band ist die Jahresgabe 2017/18 der Agnes-Miegel-Gesellschaft (AMG) und kann bei der Geschäftsstelle der AMG, Agnes-Miegel-Platz 3, 31542 Bad Nenndorf, zum Preis von 9.90 Euro bestellt werden.