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03.08.18 / Teilchen, wo bist du? / Karlsruher Technologie-Institut will Neutrinos aufspüren – Forscher wollen wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-18 vom 03. August 2018

Teilchen, wo bist du?
Karlsruher Technologie-Institut will Neutrinos aufspüren – Forscher wollen wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält
Volker Wittmann

Im Hardtwald auf der Gemarkung des badischen Leopoldshafen am Oberrhein liegt tief im Tann der Campus Nord. So heißt das Forschungsgelände des KIT, des Karlsruher Instituts für Technologie, eine der größten wissenschaftlichen Anstalten Deutschlands. Abgeschirmt hinter hohen Zäunen untersucht dort ein Heer von Wissenschaftlern, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Unter dem vermeintlichen Mädchennamen „Katrin“ haben Physiker und Ingenieure des KIT kürzlich einen Großversuch begonnen, der laut Bundesforschungsministerin Anja Karliczek nichts Geringeres als „die Er­kenntnisse über unser Universum entscheidend ergänzen“ soll: das „Karlsruher Tritium Neutrino Experiment“. Das steckt hinter dem Kürzel „Katrin“. Es geht darum, Neutrinos dingfest zu machen, die häufigsten Teilchen im Weltall, denen sich eine Masse zuordnen lässt.

Gemäß dem Weltbild der Physiker besteht die belebte wie die unbelebte Natur und alles andere Stoffliche aus winzigen Einheiten, die sie als Elementarteilchen be­zeichnen. Demnach bilden Elek­tronen, Protonen und Neutronen durch Wechselwirkung Atome. Die formen mit kleinen Kernen Bausteine von leichten Gasen wie Wasserstoff und Helium bis zu schweren Kernen für Metalle wie Eisen, Gold oder Uran. Zudem unterscheidet die Teilchen-Physik einige Dutzend weiterer Arten wie Leptonen und Quarks.

Neutrinos kommen milliardenfach häufiger vor als alle übrigen Masse-Teilchen. Dennoch wurden sie erst spät entdeckt. Das lag daran, dass sie unbemerkt alles durchdringen, sogar müheloser als Lichtwellen das Glas. Viel mehr ist von den geisterhaften Winzlingen kaum bekannt.

Umso größer wurde die Neugier der Forscher am KIT. Das Technologie-Institut zählt im weltweiten Vergleich zu den besten Hochschulen. Es entstand 2009 aus dem Zusammenschluss der Technischen Universität Karlsruhe und dem ebenfalls dort ansässigen Forschungszentrum. An der Spitze steht mit Professor Holger Hanselka ein Ingenieur als Präsident.

Inner- und außerhalb des Campus Nord arbeiten rund 10000 Beschäftigte. Die Hälfte von ihnen ist wissenschaftliches Personal. Im Vorjahr heimste eine Mitarbeiterin den viel begehrten „Leibniz-Preis“ für herausragende Arbeiten ein. Vier weitere Mitarbeiter bekamen Förderpreise des Europäischen Forschungsrats, des European Research Councils.

Mit den „Kopernikus-Projekten“ unterstützt das KIT unter anderem die Energiewende der Bundesregierung. Dabei sucht man Lösungen, wie sich die Versorgung mit Strom nach dem Ausstieg aus der Atomkraft bewerkstelligen lässt. Mit „Omnisteer“ entwickelt ein weiteres Unternehmen Konzepte für elektrisch be­triebene Verkehrsmittel.

Im Jahr 2016 standen dem KIT für seinen emsigen Betrieb 851 Millionen Euro zur Verfügung. Neben Geldern von Bund und Land machten Drittmittel mit 336 Millionen den größten Anteil aus. 1,7 Millionen davon flossen aus Lizenz-Einnahmen für 55 Patent- und 124 Erfindungs-Meldungen im selben Zeitraum.

Mit solchermaßen reichlichen Gütern und geballter Fachkraft im Rücken begann mit Unterstützung zahlreicher Partner aus dem In- und Ausland das ehrgeizige Vorhaben „Katrin“. Ganze 15 Jahre Vorarbeit und 60 Millionen Euro wurden dafür aufgewendet. Entsprechend wuchtig geriet die Versuchsanordnung. Allein der Tank des sogenannten Hauptspektrometers zum Aufspüren der Neutrinos geriet so groß wie ein Zeppelin.

Nur eine Firma, die MAN-DWE im bayerischen Deggendorf, sah sich in der Lage, die technischen Vorgaben zu erfüllen. Für den Transport über die Straßen nach Baden war das Gerät viel zu groß. Man musste das Riesenteil mit dem Schiff die Donau hinab ins Schwarze Meer bringen, dann über den Bosporus ins Mittelmeer, um Südeuropa herum nach Holland und schließlich den Rhein hinauf bis kurz vor Karlsruhe. Den Rest besorgte Europas mächtigster Riesenkran.

In der Versuchshalle des Campus Nord bildet das Spektrometer das dicke Ende einer Anlage von 70 Metern Länge. Am Anfang wird durch Radioaktivität mittels überschwerem Wasserstoff, auch Tritium genannt, ein Elektronen-Strahl erzeugt. Den Vorgang nennen die Physiker Beta-Zerfall. Supraleitende Magnete, tiefgekühlt auf 4 Kelvin, also knapp über der Weltraumkälte, leiten ausgewählte Elektronen in den großen Tank aus Edelstahl. 

Die Luft im riesenhaften Behälters wird dazu abgepumpt, sodass ein Vakuum entsteht, das dünner ist als auf der Oberfläche des Mondes. Drumherum bändigen weitere Magnete die interessanten Elektronen und leiten sie auf einen Detektor. Bei diesem Durchlauf wägt man die ihnen innewohnende Energie ab.

An den elektrischen Teilchen, die beim Beta-Zerfall entstanden sind, so weiß die Wissenschaft, müsste ein Quäntchen fehlen. Denn zugleich mit dem Elektron wird ein Neutrino frei. Diesen Unterschied zu ermitteln, gilt der ganze Aufwand.

Um die erste Kernspaltung nachzuweisen, benötigte Otto Hahn 1938 noch so geringes Gerät, dass es auf einem Schreibtisch Platz hatte, zu sehen im Deutschen Museum in München. Im Zeitalter der Hochtechnologie geht es am KIT entsprechend höher und heißer her. Am nahen Oberrhein lagen die Temperaturen schon immer über denen im Rest der Republik.

Auch ist es mit einer Messung noch lange nicht getan. Der fragliche Unterschied, den ein Neutrino ausmacht, ist so gering, dass es Monate dauert, bis eine angenäherte Schätzung vorliegt. Geplant ist eine Versuchsreihe, die voraussichtlich bis 2023 währt. Erst dann hofft man, genauere Werte zu kennen.

Ist das den ungeheuren Aufwand wert? Physiker Thomas Thümmler, der Koordinator des Spektrometer- und Detektor-Bereichs, ist davon überzeugt. Seine Erklärung lautet: „Es geht um Grundlagenforschung. Wir mussten für den Versuch völlig neue Verfahren entwickeln, die bereits vorhandene Technik große Schritte vorangebracht hat. Allein dieser Zuwachs an fortschrittlicher Technologie zahlt sich bereits mehrfach aus.“

Kleine Schritte in der Grundlagenforschung bringen zudem dauerhafte Erkenntnisse auf vielen Gebieten. So sehen es die Wissenschaftler. Das summiert sich im Lauf der Zeit zu unschätzbaren Vorteilen.