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10.08.18 / Ein Schritt zum totalen Krieg / Nationalkonvent und Wohlfahrtsausschuss verabschiedeten in Frankreich die Anordnung der Levée en masse

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-18 vom 10. August 2018

Ein Schritt zum totalen Krieg
Nationalkonvent und Wohlfahrtsausschuss verabschiedeten in Frankreich die Anordnung der Levée en masse
Wolfgang Kaufmann

Angesichts der wachsenden Zahl innerer und äußerer Feinde setzte die Führung der ersten Französischen Republik 1793 auf das neuartige Konzept des „Staatsbürgers in Waffen“, der im Rahmen einer sogenannten Levée en masse (Massenaushebung) mobilisiert werden sollte. Damit leitete sie die Totalisierung des Krieges ein.

 Im Sommer 1793 stand das revolutionäre Frankreich in mehrerlei Hinsicht mit dem Rücken zur Wand. Die Erste Republik war von außen durch eine drohende Invasion der Koalitionäre und von innen durch Aufstände bedroht. Die Versorgungslage war schlecht, es herrschten ka­ta­strophale wirtschaftliche Verhältnisse. Und am 13. Juli 1793 war auch noch der Jakobiner-Führer Jean Paul Marat einem tödlichen Attentat der Girondistin Marie Anne Charlotte Corday d’Armont zum Opfer gefallen (siehe PAZ Nummer 30 vom 27. Juli). Vor diesem Hintergrund standen sowohl der Nationalkonvent als auch der von ihm  am 5. und 6. April 1793 als Exekutivorgan eingerichtete Ausschuss der öffentlichen Wohlfahrt und der allgemeinen Verteidigung (Wohlfahrtsausschuss) unter Zugzwang. 

Die Sansculotten, die Unterstützer der Jakobiner innerhalb des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft, hatten sehr klare Vorstellungen, wie die Lage in den Griff zu bekommen sei, durch das Mittel der Levée en masse, einer Massenaushebung von Rekruten, welche die zahlenmäßige Unterlegenheit der republikanischen Armee beenden und den Sieg im Kampf gegen die äußeren und inneren Feinde der Revolution ermöglichen sollte.

Allerdings gab es viele Vorbehalte gegen das Verfahren, das auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hinauslief. So fürchtete der Wohlfahrtsausschuss, dass sich die Armee dadurch in einen unkontrollierbaren wilden Haufen verwandele. Außerdem monierte Maximilien de Robespierre, den der Nationalkonvent am 27. Juli 1793 in den Wohlfahrtsausschuss berufen hatte, es fehle ja gar nicht an Männern unter Waffen, sondern an Generälen mit patriotischen Tugenden – eine Anspielung auf Charles-François du Périer du Mouriez, der erst die Schlacht von Neerwinden verloren hatte und dann ins Lager des Gegners desertiert war.

Dahingegen meinten die Befürworter der Levée en masse, nach dem Sturz des Ancien Régime müsse nun auch eine neue militärische Kultur her, die sich am Vorbild der antiken Demokratien orientiere – ganz abgesehen davon, dass die militärische Lage zur Mobilisierung restlos aller Reserven zwinge. Dass sich diese Sichtweise am Ende durchsetzen konnte, lag maßgeblich an Lazare Nicolas Marguerite Carnot. Der politisch engagierte Ingenieur-Offizier gehörte dem Wohlfahrtsausschuss seit dem 4. August 1793 als Verantwortlicher für Militärangelegenheiten an und sorgte durch seine Argumentation dafür, dass der Nationalkonvent und der Wohlfahrtsausschuss der Forderung der Sansculotten nachkamen und am 23. August 1793 grünes Licht für die Levée en masse gaben.

Das entsprechende Dekret begann mit den Worten: „Ab sofort bis zu dem Augenblick, in dem die Feinde vom Territorium der Republik verjagt sind, unterliegen alle Franzosen der ständigen Einberufung zum Heeresdienst.“ Danach hieß es: „Die jungen Männer gehen an die Front, die Verheirateten schmieden Waffen und übernehmen den Verpflegungstransport; die Frauen nähen Zelte, Uniformen und tun in den Hospitälern Dienst; die Kinder zupfen aus altem Leinenzeug Scharpie (Ausgangsmaterial für Verbandsmull); die Greise lassen sich auf öffentliche Plätze tragen, um den Soldaten Mut und Hass gegen die Könige zu predigen und ihnen die Einheit der Republik einzuschärfen. Die nationalen Gebäude werden in Kasernen, die öffentlichen Plätze zu Rüstungswerkstätten umgewandelt, die Kellerfußböden ausgelaugt, um Salpeter zu gewinnen.“ Damit lief die Levée en masse nicht nur auf die Einführung der Wehrpflicht hinaus, sondern auch auf eine Totalisierung des Krieges. Andererseits kam es aber zu keiner uneingeschränkten Inmarschsetzung aller, die irgendwie Waffen tragen konnten, an die Fronten, wie es die Sansculotten eigentlich gefordert hatten.

Nachfolgend integrierte Carnot die neu Ausgehobenen in die revolutionären Freiwilligenverbände sowie die noch bestehenden alten Einheiten aus der Zeit der Monarchie, wodurch ein relativ homogener und loyaler Truppenkörper entstand. Dabei half ihm das ebenfalls innovative Kommissar-System. Vom Konvent beauftragte Volksvertreter wachten mit Argusaugen über die Zuverlässigkeit des Offizierskorps.

Durch die Levée en masse wuchs die Armee des republikanischen Frankreich bis Mitte 1794 auf 730000 Mann. Das ermöglichte ihr letztlich den Sieg im Ersten Koalitionskrieg, der im Oktober 1797 endete. 1798 wurde die Wehrpflicht durch das Jourdan-Delbrel-Gesetz modifiziert, das jährliche Aushebungen nach festgesetzten Quoten vorsah. So entstand die Grundvoraussetzung für die Schaffung der Grande Armée von Napoléon Bonaparte, in der allein zwischen 1806 und 1814 zwei Millionen Franzosen dienten. 

Angesichts dessen wird verständlich, warum viele andere Staaten der Welt dem französischen Vorbild folgten – darunter auch Preußen. Hier wurde die Allgemeine Wehrpflicht 1814 im Zuge der Heeresreformen eingeführt.