26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
17.08.18 / Nutznießer wie Gegner der Parlamentarisierung / In der Kaiserzeit war der Zentrumspolitiker Georg von Hertling bayerischer und preußischer Ministerpräsident sowie Reichskanzler

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33-18 vom 17. August 2018

Nutznießer wie Gegner der Parlamentarisierung
In der Kaiserzeit war der Zentrumspolitiker Georg von Hertling bayerischer und preußischer Ministerpräsident sowie Reichskanzler
Manuel Ruoff

Es ist nicht völlig frei von Komik: Dass der in Hessen geborene Zentrumspolitiker Georg von Hertling kurz vor dem Ersten Weltkrieg Ministerpräsident von Bayern sowie im Kriege Reichskanzler und Ministerpräsident von Preußen werden konnte, hatte er der Parlamentarisierung Deutschlands zu verdanken. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, eben diese Parlamentarisierung abzulehnen. Die Parlamentarisierung brachte ihn ins Kanzleramt. Deren Ablehnung brachte ihn wieder heraus.

Georg Friedrich Karl Freiherr von Hertling wurde am 31. August 1843 in Darmstadt in eine katholische Familie geboren. Sein Vater war Hofgerichtsrat, seine Mutter tiefreligiös. Unter dem Einfluss seiner Mutter erwog Gertling, Theologie zu studieren, aber sein Denken war eher durch die Aufklärung als durch Dogmen bestimmt, und so zog er ein Philosophiestudium vor. Der Spross einer bildungsbürgerlich geprägten Beamtenfamilie strebte eine akademische Karriere an. Doch kaum, dass der bekennende Katholik sich 1867 im preußischen Bonn habilitiert hatte, begann der sogenannte Kirchenkampf. 13 Jahre nach der Habilitation erhielt er in der heutigen Bundesstadt wenigstens eine außerordentliche Professur. Eine ordentliche erlangte er erst im katholischen München zwei Jahre später.

Es ist nicht untypisch für starke Minderheiten, dass sie auf Diskriminierung durch Staat oder Gesellschaft mit dem Aufbau einer parallelen Infrastruktur reagieren. Hertling hatte nun Diskriminierung als Wissenschaftler erfahren, und so gründete er 1876 mit anderen katholischen Gelehrten und Publizisten in Koblenz die heute noch beziehungsweise wieder existierende Görres-Gesellschaft, deren „im katholischen Glauben wurzelnder Gründungsauftrag“ es ist, „wissenschaftliches Leben auf den verschiedenen Fachgebieten anzuregen und zu fördern und die Gelegenheit zum interdisziplinären Austausch zu bieten“. Hertling war nicht nur Mitbegründer und Hauptinitiator dieser Gesellschaft, sondern wurde auch deren erster Präsident und blieb es bis zu seinem Tode.

Parteipolitisch engagierte sich Hertling im Zentrum, der katholischen Volkspartei. 1891 wurde er Mitglied des Reichsrats, der ersten Kammer des bayerischen Landtags. Noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit seinem Demokratisierungsdruck auf die kriegsführenden Staaten wurde Hertling zum bayerischen Ministerpräsidenten berufen. Dieses war insofern ein bemerkenswertes Novum, als mit ihm der Regent das erste Mal einen Vertreter der Mehrheitsfraktion an die Spitze der Regierung berief, wie dieses in parlamentarischen Monarchien Usus ist. Insofern ist Hertlings Berufung auch als Zeichen einer beginnenden Parlamentarisierung Bayerns zu werten.

Analoges galt fürs Reich. Hertling gehörte als Exponent des politischen Katholizismus einer zumindest zeitweise im preußisch geprägten kleindeutschen Nationalstaat diskriminierten Minderheit an. Seine schlechten beruflichen Erfahrungen im Kulturkampf hinderten ihn jedoch nicht daran, den Ausgleich zwischen Katholizismus und Reich zu suchen. Das waren gute Voraussetzungen für eine politische Karriere im Reich, die ihn bis an dessen Regierungsspitze führten. 

Mit einer Auszeit von 1890 bis 1896 gehörte Hertling bis zu seiner Berufung an die Spitze der bayerischen Regierung dem Reichstag an, ab 1909 sogar als Vorsitzender der Zentrumsfraktion. Den Sturz des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg am 13. Juli 1917 hielt Hertling für einen großen Fehler, und er weigerte sich, statt diesem nun die Regierungsgeschäfte in Berlin zu führen. Statt seiner wurde der in der Politik ebenso unerfahrene wie unbekannte Beamte Georg Michaelis (siehe PAZ Nr. 29 vom 23. Juli 2011) Bethmann Hollwegs Nachfolger. 

Nachdem Michaelis die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) für eine Meuterei bei der Hochseeflotte verantwortlich gemacht und ihnen öffentlich „staatsgefährdende Ziele“ unterstellt hatte, solidarisierten sich die sogenannten Mehrheitsparteien, also die SPD, das Zentrum und der Linksliberalismus, die im Ersten Weltkrieg eine Art Koalition in der Opposition bildeten und nach der Novemberrevolution die Weimarer Koalition bilden sollten, mit der USPD und forderten Michaelis’ Entlassung durch den Kaiser. Es war ein Zeichen für die fortgeschrittene Parlamentarisierung des Reiches, dass Michaelis sich durch dieses Misstrauensvotum der Mehrheitsparteien zum Rücktritt gezwungen sah. Und es war ebenso ein Zeichen für diese fortgeschrittene Parlamentarisierung des Reiches, dass mit Michaelis’ Nachfolger nun erstmals ein Vertreter der Mehrheitsparteien Reichskanzler wurde. Nach den Erfahrungen mit Bethmann Hollwegs direktem Nachfolger hatte Hertling seinen Widerstand aufgegeben. Entsprechend der seit Otto von Bismarck im Kaiserreich geltenden Regel übernahm Hertling am 1. November 1918 mit dem Posten des Reichskanzlers auch gleich den des preußischen Ministerpräsidenten. Nicht nur das Reich, sondern auch Preußen hatte also nun einen bekennenden Katholiken zum Regierungschef. 

Sowohl die Mehrheitsparteien als auch die Oberste Heeresleitung erwarteten vom Reichskanzler Hertling eine Fortsetzung des Parlamentarisierungsprozesses. Das wollte Hertling, der wusste, dass die von ihm abgelehnte SPD davon profitieren würde, jedoch nicht. Die Ankündigung des Kaisers, im Reich das parlamentarische System einzuführen, nahm er deshalb zum Anlass zu demissionieren. Er räumte das Feld für Max von Baden (siehe PAZ Nr. 27 vom 7. Juli 2017), der ungleich besser mit den Sozialdemokraten konnte. 

Was nun in und mit seinem Vaterland geschah, erschütterte Hertling zutiefst. Bis zuletzt an seinen „Erinnerungen“ schreibend, starb der 1914 in den Grafenstand erhobene Monarchist am 4. Januar 1919 im oberbayerischen Ruhpolding.