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24.08.18 / Die Qual der Zahl / Was sagen Opferstatistiken aus? Im Grunde viel weniger, als der oft hitzig geführte Streit um sie vermuten ließe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-18 vom 24. August 2018

Die Qual der Zahl
Was sagen Opferstatistiken aus? Im Grunde viel weniger, als der oft hitzig geführte Streit um sie vermuten ließe
Erik Lommatzsch

Obwohl sie das tragische Einzelschicksal mehr verhüllen als würdigen, spielen Opferzahlen in geschichtspolitischen Debatten eine zentrale Rolle. Wie das Beispiel Dresden zeigt, bewegen sich die Schätzer und Behaupter dabei oft auf wackligem Terrain.

Sprichwörtlich gegeneinander ausspielen kann man Opferzahlen mittels eines „Tyrannenquartetts“, welches inzwischen in mehreren Fortsetzungen käuflich zu erwerben ist. Jeder Machthaber wird durch eine Karte repräsentiert. Nach dem Vorbild der früher vor allem bei Jungen beliebten „Autokarten“ ist es möglich, durch Vergleich verschiedener Zahlenangaben gegeneinander in Wettbewerb zu treten. 

Neben Kategorien wie „Herrschaftsdauer“ oder „Vermögen“ gibt es auch die Kategorie „Todesopfer“. Dieses wenig kindgerechte, nicht ganz ernst gemeinte und für manchen vielleicht etwas zu makabre Kartenspiel greift dennoch, vielleicht ungewollt, eine Problematik auf, die immer wieder aufflammt: den Vergleich von Opferzahlen und die damit verbundene Frage, welche Aussagen sich aus deren Größe herleiten lassen. Lässt sich die Schwere  von Verbrechen oder Katastrophen in Zahlen bemessen, in Opferzahlen? 

Nahezu „klassisch“ geworden war der Streit um die Opferzahl bei der Bombardierung Dresdens zwischen dem 13. und 15. Februar 1945. Neben die Zahl der Toten tritt hier die Zerstörung der historischen Barockstadt und vor allem die Frage nach dem militärischen Sinn des Luftangriffs. Dies kulminiert im Extremfall in der These, dass der Angriff vielleicht sogar eher als Kriegsverbrechen zu werten sei. Im Auftrag der Stadt Dresden untersuchte eine Historikerkommission vor wenigen Jahren die zu zählenden menschlichen Opfer „amtlich“ und stellte nach mehr als fünfjähriger Arbeit eine – später noch einmal deutlich nach oben korrigierte – Mindesttotenzahl von etwa 18000 und eine Höchsttotenzahl von etwa 25000 fest.

Die Emotionen schlagen bei diesem Thema nicht nur auf Politikpodien und auf wissenschaftlichen Kongressen hoch. Anlässlich des 2008 in Dresden stattfindenden Historikertages war ein Teilnehmer kurz davor, von seiner Wirtin aus dem für drei Tage angemieteten Zimmer geworfen zu werden, als sie erfuhr, zu welchem Zweck er in die Stadt gereist war. 

Der Fokus der thematisch äußerst breit gefächerten Veranstaltung mit vierstelliger Teilnehmerzahl war für die Einwohner der gastgebenden Stadt ausschließlich auf den natürlich auch diskutierten Bereich der Luftangriffe vom Februar 1945 und die zu beklagende Opferzahl gerichtet. Die alteingesessene Dresdnerin war der Meinung, besagter Tagungsteilnehmer sei allein mit dem Vorhaben angereist, die ihr bekannten Zahlen kleinzurechnen, in ihrer Lesart: zu fälschen.

Die Opferzahlen, welche zuvor im Zusammenhang mit dem Dresdener Bombardement genannt wurden, unterschieden sich reichlich von denen der Historikerkommission: Unmittelbar nach den Ereignissen, war, von deutscher Seite, die Rede von über 200000 Toten. Exakte Berechnungen waren selbstredend nicht möglich, an einer niedrigen Menge war man schon gar nicht interessiert. 1948 sprach das Internationale Komitee vom Roten Kreuz sogar von 275000. Die Angaben beruhten zwar ebenfalls nicht auf Untersuchungen, schienen aber durch den Urheber der Veröffentlichung glaubwürdiger als die Angaben aus der Kriegszeit. Später verbreitete Spitzenangaben im Sachbuchbereich lagen bei 500000. 

Der Schriftsteller Rolf Hochhuth, der sich immer gern mit zeithistorisch Brisantem in den Mittelpunkt spielt, verwendete 1974 auf der Grundlage der Aussagen des Historikers David Irving eine Zahl von mehr als 200000. Im 30. Jahr nach dem Angriff fand sich in der „Süddeutschen Zeitung“ die Zahl 135000, die „Welt“ hielt zur selben Zeit 400000 für möglich. Die offizielle Angabe der DDR nimmt sich dagegen fast bescheiden aus, hier war immer von 45000 die Rede.

Alle diese Zahlen sind von der nun wissenschaftlich festgestellten – 25000 – weit entfernt. Erkennbar an den zuvor viel größeren Zahlen ist das Bestreben, das nur schwer fassbare, qualitative Grauen zu quantifizieren und in eine Waagschale zu werfen – sei es im Bestreben, das eigene Leid zu unterstreichen, sei es im Bestreben, vorrangig gegen anderes, durch die Wehrmacht und ihre Verbündeten verursachtes Leid aufzurechnen. 

Im akademischen Diskurs ist die nun ermittelte Zahl akzeptiert. Der „Krieg“ um die Zahl der Opfer der Royal Air Force und der United States Army Air Forces in jenen Februarnächten und -tagen des Jahres 1945 scheint entschieden. Anderweitig, nicht zuletzt bei überlebenden Dresdnern, wird sie noch immer als zu niedrig angezweifelt. 

Abgesehen vom rein wissenschaftlich-historischen Erkenntnisgewinn steht hinter einer Dis­kussion und dem Präsentieren von Statistiken unausgesprochen, aber klar die Annahme, dass die Schwere des Ereignisses sich anhand der Opferzahlen darstellen lasse. Durch spätere, wenn auch sachliche Korrektur der zuvor nur vermuteten Opferzahlen wird, wie im Falle Dresdens, oft eine nachträgliche Missachtung, Verharmlosung oder gar die Zerstörung eines „Mythos“ ausgemacht.

Natürlich bieten Faktoren wie „Qualität“ oder „Umstände“ immer wieder die Möglichkeit zu relativieren. Je nach Standpunkt oder Aussage handelt es sich beim Relativieren entweder um die vornehmste Aufgabe des Historikers oder eben um ein mit absoluten Tabus belegtes Gebiet. In die erste Kategorie fällt es sicher, wenn der britische Experte für den Zweiten Weltkrieg Richard Overy ausführt, dass 1939 in sowjetischen Gulags etwa      60 Mal so viele Menschen eingesperrt waren wie in deutschen Lagern. Im Krieg wuchs die Zahl der deutschen Lagerinsassen an, „aber auch dann saßen im Gulag deutlich mehr Menschen ein“. 

Overy, der die nationalsozialistischen Vernichtungslager aus seinen Betrachtungen ausdrück­lich ausnimmt, kommt bei einem Vergleich immer noch zu der Aussage, dass das sowjetische Lagersystem „weniger tödlich“ gewesen sei. Er begründet dies mit der Aussage, dass die Lager Stalins menschenverachtend auf Arbeitskraft setzten. 

Das gesundheitliche Wohlergehen der Inhaftierten spielte kaum eine Rolle, Todesfälle wurden in Kauf genommen. Der Tod sei aber nicht das Ziel an sich gewesen, nach Verbüßung der Haftzeit sei man wieder frei gekommen. Das unterscheide die Gulags von deutschen Lagern, aus denen man seit Kriegsbeginn kaum noch freigelassen worden sei. Overy gibt die To­desquote in den Gulags mit 14 Prozent an, in deutschen Konzentrationslagern mit 40 Prozent. Er liefert somit ein Beispiel, wie man die absolut höheren Häftlingszahlen der Gulags durch Relativieren anders bewerten kann als die Zahlen der Insassen deutscher Konzentrationslager. 

Fast korrespondierend mit den Dresdener Dimensionen existieren Angaben, wonach in den sowjetischen Gulags etwa 20 Millionen Menschen umgekommen seien. Nach seriöseren Untersuchungen hingegen waren etwa 18 Millionen inhaftiert, von denen über zweieinhalb Millionen starben.

Fundierte und dickleibige, oft unter internationaler Beteiligung entstandene Untersuchungen wie etwa das „Schwarzbuch des Kommunismus“ liefern ein abstraktes Bild derartiger Vorgänge. Bei der Betrachtung des Einzelschicksals, des Einzelfalls, stellen sich die Dinge jedoch anders dar. Dem Wort „Einzelfall“ war übrigens in den vergangenen Jahren in der deutschen Dis­kussion eine traurige Karriere beschieden. Fast stets taucht es nun bei kriminellen Übergriffen auf, die im Zusammenhang mit der Immigration stehen. Aktuell wird der Begriff „Einzelfall“ fast ausschließlich gebraucht, um den möglicherweise kritischen Betrachter vom Herstellen von Zusammenhängen abzuhalten. 

Zurück in die Geschichte: Der Einzelfall des Dresdner Bombenopfers, der Einzelfall des Gulag- oder KZ-Häftlings ist individuell und lässt die großen Zahlen verschwinden. Weniger nachträglich gezählte Leidensgenossen mindern das Leid des Einzelnen um keinen Deut. Der Ausspruch, der Tod eines Mannes sei eine Tragödie, der Tod von Millionen sei nur eine Statistik – überliefert auch in anderen Varianten, oft Stalin zugeschrieben, aber letztlich ungeklärter Herkunft –, enthält viel Wahrheit.