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14.09.18 / Ein Gericht als Schauplatz der Politik / Im 20. Jahrhundert war das 550 Jahre alte Kammergericht auch Ort wichtiger politischer Ereignisse

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-18 vom 14. September 2018

Ein Gericht als Schauplatz der Politik
Im 20. Jahrhundert war das 550 Jahre alte Kammergericht auch Ort wichtiger politischer Ereignisse
Michael Leh

Das Berliner Kammergericht ist das älteste heute noch tätige deutsche Gericht, und seine Geschichte ist faszinierend. 1468 – vor 550 Jahren – wurde es erstmals urkundlich erwähnt. Seit dem 15. Jahrhundert war es im Berliner Stadtschloss untergebracht. 1735 erhielt es mit dem Kollegienhaus – dem Altbau des heutigen Jüdischen Museums in der Lindenstraße in Kreuzberg – ein eigenes Gebäude.

Am 18. September 1913, also ziemlich genau vor 105 Jahren, ist das Gericht in einen damals neu erbauten wilhelminischen Justizpalast, seinen heutigen Standort am Kleistpark in der Elßholzstraße 30-33 in Schöneberg, umgezogen. Das 550. Jubiläum des Gerichts – das heute als Oberlandesgericht wirkt, aber seinen historischen Namen weiter tragen konnte – wurde im Juni mit einem Festakt begangen.

Das imposante Gebäude ist rund 135 Meter lang. Zur Zeit seiner Einweihung verfügte es über 540 Räume. Es hat fünf Geschosse. Der Haupteingang an der Prunkfassade ist parkseitig gelegen, nicht an der Elßholzstraße. Die Baukosten haben 4283700 Mark betragen. 

Von August 1944 bis Januar 1945 tagte im Plenarsaal auch der berüchtigte Volksgerichtshof unter Roland Freisler, der dort Schauprozesse gegen die Beteiligten am Attentat vom 20. Juli 1944 auf Adolf Hitler führte und zahlreiche Todesurteile fällte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs konnte das Kammergericht nicht am Kleistpark verbleiben. Im April 1945 waren sowjetische Truppen bis dorthin vorgedrungen. Sie richteten im Gebäude ein Lazarett ein. Auch Schweine wurden von den Russen dort gehalten. Markierungen auf dem Boden vor der Gerichtsbibliothek zeigen, wo die Koben waren.

Wie es im neuen Buch von Michael Bienert „Das Kammergericht in Berlin. Orte – Prozesse – Ereignisse“ heißt, bereitete im Juli 1945 eine Pionierbrigade aus Texas das Gebäude als Sitz des Alliierten Kontrollrates vor. Die Brigade hat bis heute eine sichtbare Erinnerung hinterlassen: Sie gestalteten den Minutenzeiger der großen Uhr über der Haupttreppe im Inneren des Gebäudes als goldfarbenes Seepferdchen – ein solches war im Wappen der Brigade. 

Am 10. August 1945 übernahm der Alliierte Kontrollrat das repräsentative Gebäude. Der Kontrollratsbeschluss vom Februar 1947 über die Auflösung des Landes Preußen bedeutete auch das Ende für das Kammergericht als Teil der preußischen Gerichtsbarkeit. Im Plenarsaal konstituierte sich der Internationale Militärgerichtshof. Kurz darauf begann in Nürnberg der erste Prozess gegen NS-Kriegsverbrecher.

1948 verließ die Sowjetunion in Konfrontation mit den Westmächten den Kontrollrat. Die Sowjets hatten Sonderstrafkammern in einem vom Kammergericht genutzten Gebäude in der damaligen Neuen Friedrichstraße (heute Landgericht Littenstraße) angeordnet. Das Kammergericht in Ost-Berlin hatte dort von 1945 bis 1961 seinen Sitz. Das Kammergericht (West) arbeitete zunächst von 1949 bis 1951 am Fehrbelliner Platz. Danach hatte das für West-Berlin zuständige Kammergericht seinen Sitz im Gebäude des früheren Reichsmilitärgerichts in der Witzlebenstraße 4-5 am Lietzensee in Charlottenburg.

1970 begannen die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich die Verhandlungen über das Viermächteabkommen in dem Justizgebäude. Es ging um den Status von Berlin, den Besucherverkehr, die Sicherheit der Zugangswege nach West-Berlin und die Existenz von Behörden der Bundesrepublik im Westteil der Stadt. Das Abkommen wurde 1971 unterzeichnet und trat 1972 in Kraft. Bis zum 2. Oktober 1990 wurden von den über 500 Räumen des Gerichtsgebäudes nur 20 Räume von der Alliierten Luftsicherheitszentrale genutzt.

Nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes kam das Gebäude wieder an Deutschland zurück. Bienert schreibt in seinem Buch, am 27. Februar 1991 sei im Kammergericht an der Witzlebenstraße ein Schreiben der amerikanischen Streikräfte eingegangen. Es habe die vollständige Räumung und Rückgabe des Gerichtsgebäudes am Kleistpark für den folgenden Tag angekündigt. „Drei Mitarbeiter des Kammergerichts finden sich pünktlich in der Eßlholzstraße ein. Fünf Schlüsselbunde übergibt ihnen ein Repräsentant der US-Streitkräfte – für jedes Stockwerk einen. Dann dürfen die Richter das nunmehr unbewachte und menschenleere Riesengebäude betreten“, so Bienert.

1972 fand im Kammergericht (allerdings im Schwurgerichtssaal in Moabit) einer der ersten Prozesse gegen Linksterroristen statt. Horst Mahler, den Otto Schily verteidigte, erklärte vor Gericht: „Mit Richtern spricht man nicht, auf Richter schießt man.“ Am 10. November 1974 wurde Kammergerichtspräsident Günter von Drenk­mann von RAF-Terroristen in seiner Privatwohnung in der Bayernallee erschossen. Das SPD-Mitlgied Drenkmann hatte sich in der NS-Zeit geweigert, in eine nationalsozialistische Organisation einzutreten. Er wurde deshalb nicht in den Staatsdienst übernommen. Auch war er nie Strafrichter. Die RAF ermordete ihn als Repräsentanten der Justiz. Die Täter hatten an seiner Haustür in der Bayernallee 10 geklingelt unter dem Vorwand, einen Blumenstrauß abzugeben. Im Eingangsbereich des Gerichts am Kleistpark erinnert eine Gedenktafel an ihn. 

Im Kammergericht arbeiten heute knapp 150 Richter. Hinzu kommen 370 Mitarbeiter im nichtrichterlichen Dienst. Als Oberlandesgericht ist es zweite Instanz in Zivil- und Strafsachen sowie familienrechtlichen Verfahren. Es ist erste Instanz bei Staatsschutzprozessen. Es ist auch für die Ausbildung von rund 2000 Rechtsreferendaren zuständig. Im Kammergericht tagt auch unter anderem der Berliner Verfassungsgerichtshof.


Nähere Informationen bietet Michael Bienerts Buch „Das Kammergericht in Berlin. Orte – Prozesse – Ereignisse“, das dieses Jahr aus Anlass des 550. Jubiläums des Kammergerichts im Verlag für Berlin-Brandenburg erschienen ist. Die erste Auflage ist bereits vergriffen – im Oktober wird eine zweite erscheinen.