25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
21.09.18 / Frankensteins Erben / Erstaunlich lebensecht – Hyperrealistische Skulpturen in Tübingen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-18 vom 21. September 2018

Frankensteins Erben
Erstaunlich lebensecht – Hyperrealistische Skulpturen in Tübingen
Veit-Mario Thiede

Neben einem Strohballen steht ein Cowboy und blickt nachdenklich zu Boden. Hat ihn eine jähe Erkenntnis getroffen? Den einsamen Burschen schuf der US-Amerikaner Duane Hanson in den 1980er Jahren. Hanson ist einer der Altväter der hyperrealistischen Skulptur. Diese Kunstrichtung ist voller merkwürdiger Erscheinungen. Das veranschaulicht die Kunsthalle Tübingen, die mit der Ausstellung „Almost Alive“ (Deutsch: Fast lebendig) 30 hyperrealistische Skulpturen ausstellt.

Die aus Kunstharz, Wachs oder bemalter Bronze geschaffenen, bekleideten oder nackten Gestalten wirken verblüffend, zuweilen geradezu erschreckend lebendig. Viele Künstler wollen mit diesen Geschöpfen offenbar Unbehagen hervorrufen. Da stößt etwa ein Riese durch den Fußboden und stemmt sich mit beiden Händen in die Höhe. Oder ist es umgekehrt? Ist der vom Künstler Zharko Basheski 2009/10 erschaffene „Gewöhnliche Mann“ eingebrochen und wehrt sich gegen sein gänzliches Verschwinden?

An anderer Stelle kauert eine faszinierend lebensecht aussehende ältere Frau geduckt in einer Ecke und schaut bekümmert drein (Marc Sijan, 2011). Auch auf richtig abstoßende Entdeckungen sollte man sich gefasst machen. So hat Berlinde De Bruyckere eine verkrümmt auf Kissen liegende Gestalt namens „Elie“ (2009) beigesteuert, der der Kopf fehlt. Der verquollene nackte Torso soll mit seinen eigentümlichen Verfärbungen offenbar den Eindruck von Verwesung aufkommen lassen. Dann begegnen wir dem Gesicht einer Frau, das wie eine Ziehharmonika auseinandergezogen ist (Evan Penny, 2008).  Kein schöner Anblick ist auch Patricia Piccininis „Neugeborenes“ (2010). Die Künstlerin schuf eine friedlich schlummernde Ausgeburt der abstoßend niedlichen Art mit kleiner Elefantenrüssel-Nase und Armen wie Schwimmflossen. Will Piccinini damit vor den Auswüchsen der Genmanipulation warnen?

Aber es gibt auch schöne Er­scheinungen. So die schlafend auf dem Fußboden liegende Aktdarstellung „Lisa“ (John DeAndrea, 2006). Kerzengerade steht hingegen eine alte Dame im weißen Nachtgewand vor uns. Die 2010 von Sam Jinks aus Silikon und Latex hergestellte Dame hat den Kopf gesenkt und die Augen ge­schlossen, während sie einen Säugling an ihren Oberkörper drückt. Der Kleine fühlt sich bei der Oma sichtlich geborgen. Dieses anrührende Sinnbild für den Kreislauf des Lebens erstickt jede Vermutung, wonach die Detailtreue des Hyperrealismus nichtssagend sei.


Bis 21. Oktober in der Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, geöffnet Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr, donnerstags bis 

19 Uhr, Eintritt: 7 Euro, Telefon (07071) 96910, Infos im Internet: www.kunsthalle-tuebingen.de